«Wir schicken immer Essen und Kleidung, alles, was man so braucht«, entschuldigte er sich.
«Aber selbst der Pfarrer geht nicht dorthin.«
Wir verabschiedeten uns von ihm und begaben uns zu dem Haus. Der Mann blieb abwartend stehen. Vielleicht dachte er, wir würden an dem Haus vorbeigehen. Doch Petrus ging auf die Vordertür zu und klopfte. Als ich zurücksah, war der Wirt verschwunden.
Eine etwa sechzigjährige Frau kam an die Tür. Neben ihr wedelte ein riesiger schwarzer Hund mit dem Schwanz und schien sich über den Besuch zu freuen. Die Frau fragte, was wir denn wollten, sie habe zu tun, sie sei gerade dabei, Wäsche zu waschen, und ein paar Töpfe stünden auf dem Feuer. Sie schien von unserem Besuch nicht überrascht zu sein. Ich führte das darauf zurück, daß schon viele Pilger, die von dem Fluch nichts wußten, auf der Suche nach Unterkunft bei ihr angeklopft hatten.
«Wir sind Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela und hätten gern etwas heißes Wasser«, sagte Petrus.»Ich bin sicher, Sie werden es uns nicht abschlagen.«
Etwas unwillig öffnete die Alte die Tür. Wir traten in ein kleines, sauberes, spärlich möbliertes Zimmer. Es standen dort ein Sofa, dessen Plastiküberzug eingerissen war, eine Anrichte und ein Resopaltisch mit zwei Stühlen. Auf der Anrichte befanden sich ein Bild des Heiligen Herzens Jesu, einige Heilige und ein aus Spiegeln gefertigtes Kruzifix. Das Zimmer hatte zwei Türen.
Durch die eine konnte ich das Schlafzimmer sehen. Die Frau geleitete Petrus durch die andere zur Küche.
«Ich habe gerade kochendes Wasser auf dem Herd«, sagte sie.
«Ich hole schnell ein Gefäß, und dann können Sie weiterziehen.«
Ich blieb mit dem riesigen Hund im Wohnzimmer. Er wedelte zufrieden und freundlich mit dem Schwanz. Kurz darauf kam die Frau mit einer alten Konservendose, füllte sie mit heißem Wasser und reichte sie Petrus.
«Hier. Und nun gehen Sie mit Gottes Segen.«
Doch Petrus rührte sich nicht. Er zog ein Teebeutelchen aus dem Rucksack, hängte es in die Dose und sagte, er wolle das wenige, was er besitze, aus Dankbarkeit dafür, daß sie uns aufgenommen habe, mit ihr teilen.
Die Frau holte sichtlich verärgert zwei Tassen und setzte sich mit Petrus an den Resopaltisch. Während ich dem Gespräch der beiden zuhörte, sah ich weiterhin den Hund an.
«Man hat mir im Dorf erzählt, daß über diesem Haus ein Fluch liegt«, meinte Petrus beiläufig.
Ich sah die Augen des Hundes aufblitzen, als habe er die Unterhaltung verstanden. Die Alte stand abrupt auf.
«Das ist eine Lüge! Das ist ein alter Aberglaube! Seien Sie so gut und trinken Sie Ihren Tee aus, ich habe noch viel zu tun.«
Der Hund spürte den Stimmungswechsel der Frau. Er blieb reglos in Habachtstellung. Doch Petrus setzte das Gespräch seelenruhig fort.
Er goß langsam den Tee in die Tasse, führte sie an seine Lippen und setzte sie wieder ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben.
«Er ist sehr heiß«, meinte er.»Warten wir noch eine Weile, bis er etwas abkühlt.«
Die Frau setzte sich nicht wieder. Sie war von unserer Anwesenheit sichtbar verärgert, und es tat ihr nun leid, die Tür aufgemacht zu haben. Sie bemerkte, daß ich den Hund anstarrte, und rief ihn zu sich. Das Tier gehorchte, doch auch nachdem es neben ihr stand, sah es mich weiterhin an.
«Deshalb, mein lieber Paulo«, sagte Petrus, indem er mich ansah,»deshalb ist dir dein Bote gestern in dem Kind erschienen.«
Plötzlich bemerkte ich, daß nicht ich den Hund, sondern der Hund mich anblickte. Seit ich hereingekommen war, hatte mich das Tier hypnotisiert und meinen Blick festgehalten. Der Hund sah mich an und zwang mir seinen Willen auf. Ich fühlte plötzlich eine große Mattigkeit, den Wunsch, auf diesem zerschlissenen Sofa einzuschlafen, weil es draußen sehr heiß war und ich keine Lust hatte zu laufen. Dies alles kam mir seltsam vor, und mein Gefühl sagte mir, daß ich in einen Hinterhalt geraten war. Der Hund starrte mich an, und je länger er mich anstarrte, desto müder wurde ich.»Laß uns aufbrechen«, sagte Petrus, indem er sich erhob und mir die Tasse reichte.»Trink etwas, denn die Dame des Hauses möchte, daß wir bald gehen.«
Ich schwankte, doch es gelang mir, die Tasse zu nehmen, und der Tee belebte mich ein wenig. Ich wollte etwas sagen, nach dem Namen des Tieres fragen, doch ich brachte keinen Ton heraus. Etwas in mir war erwacht, etwas, das Petrus mich nicht gelehrt hatte, was sich aber dennoch in mir manifestierte. Es war der unbezwingbare Wunsch, fremdartige Worte auszusprechen, deren Sinn ich nicht kannte. Ich glaubte, daß Petrus etwas in den Tee getan hatte. Alles rückte weit weg, und ich bekam nur ungenau mit, was die Frau zu Petrus sagte. Ich war von Euphorie erfüllt und beschloß, die fremdartigen Worte, die mir in den Sinn kamen, laut auszusprechen.
Ich sah in dem Raum nur den Hund. Als ich begann, diese fremdartigen Worte auszusprechen, die ich selbst nicht verstand, hörte ich, wie der Hund zu knurren begann. Er verstand sie. Ich wurde immer erregter und redete immer lauter.
Der Hund erhob sich und bleckte die Zähne. Er war nun nicht mehr das sanfte Tier, das mir bei meiner Ankunft begegnet war, sondern etwas Böses, Bedrohliches, das mich jederzeit angreifen konnte. Ich wußte, daß die Worte mich beschützten, und redete immer lauter, wendete all meine Kraft gegen den Hund, während ich fühlte, daß in mir eine andere Macht war, die verhinderte, daß das Tier mich angriff.
Von diesem Augenblick an verlief alles in Zeitlupe. Ich sah, daß die Frau schreiend auf mich zukam und versuchte, mich hinauszudrängen, und daß Petrus die Frau festhielt, doch der Hund achtete nicht auf ihren Streit. Er starrte mir in die Augen und richtete sich knurrend und zähnebleckend auf. Ich versuchte, die fremde Sprache zu verstehen, die ich sprach, doch jedesmal wenn ich versuchte, ihren Sinn zu ergründen, nahm die Macht in mir ab, und der Hund näherte sich, wurde stärker. Ich fing an, die Worte laut herauszuschreien, und die Frau begann ebenfalls zu schreien. Der Hund bellte und bedrohte mich, doch solange ich redete, war ich sicher. Ich hörte ein lautes Lachen, doch ich wußte nicht, ob es dieses Lachen wirklich oder nur in meiner Phantasie gab.
Unvermittelt und als würde alles gleichzeitig geschehen, durchfuhr ein Windstoß das Haus, und der Hund stieß ein lautes Heulen aus und stürzte sich auf mich. Ich hob den Arm, um mein Gesicht zu schützen, brüllte ein Wort und erwartete den Aufprall.
Der Hund warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich, und ich fiel auf das Sofa. Einige Sekunden lang starrten wir einander Auge in Auge an, dann rannte er unvermittelt aus dem Haus.
Ich begann hemmungslos zu weinen. Ich erinnerte mich an meine Familie, an meine Frau und an meine Freunde. Eine ungeheure Liebe erfüllte mich, eine unendliche Freude, die mir jedoch zugleich absurd vorkam, da mir bewußt war, was mit dem Hund passiert war. Petrus packte mich am Arm und führte mich hinaus, während die Frau uns beide vor sich herschob. Ich blickte um mich, doch der Hund war spurlos verschwunden. Ich legte meinen Arm um Petrus und hörte nicht auf zu weinen, während wir in der Sonne wanderten.
An den zurückgelegten Weg kann ich mich nicht erinnern, ich kam erst wieder zu mir, als ich an einem Brunnen saß und Petrus mir das Gesicht und den Nacken anfeuchtete. Ich bat um einen Schluck Wasser, doch er sagte, mir würde nur übel werden, wenn ich etwas tränke. Eine unendliche Liebe für alles und für alle durchflutete mich. Ich blickte um mich und sah die Bäume am Straßenrand, den kleinen Brunnen, bei dem wir gehalten hatten, spürte die frische Brise und hörte die Vögel im Wald singen. Es war, wie Petrus mir gesagt hatte: Ich sah das Antlitz meines Engels. Auf meine Frage, ob wir schon weit vom Haus der Frau entfernt seien, antwortete er, daß wir schon mindestens eine Viertelstunde gegangen seien.