«Du willst sicher wissen, was geschehen ist«, meinte er.
Im Augenblick interessierte es mich nicht. Der Hund, die Frau, der Wirt waren ferne Erinnerungen, die nichts mit dem zu tun hatten, was ich jetzt fühlte. Ich sagte Petrus, daß ich gern weitergehen wolle. Mit mir sei alles in Ordnung.
Ich stand auf, und wir nahmen den Jakobsweg wieder auf.
Während des verbleibenden Nachmittags war ich wortkarg, immer noch in dieses angenehme Gefühl getaucht, das alles zu erfüllen schien. Hin und wieder dachte ich noch, daß Petrus etwas in den Tee getan haben mußte, doch auch das war letztlich unwichtig. Was zählte, war, daß ich die Berge, die Bäche, die Blumen am Wegesrand, das herrliche Antlitz meines Engels sah.
Um acht Uhr abends erreichten wir ein Hotel, und ich befand mich noch immer — wenn auch nicht mehr ganz so intensiv — in diesem seligen Zustand. Der Besitzer bat um meinen Paß, um mich einzutragen.»Sie sind aus Brasilien? Da war ich schon mal. In einem Hotel am Strand von Ipanema.«
Dieser absurde Satz brachte mich wieder in die Realität zurück.
Mitten auf der Rota Jacobea, in einem vor vielen Jahrhunderten gebauten Dorf, gab es einen Hotelier, der den Strand von Ipanema kannte.
«Wenn du jetzt mit mir reden willst, ich bin bereit«, sagte ich zu Petrus,»ich muß wissen, was heute geschehen ist.«
Der Zustand der Seligkeit war vorüber. An seine Stelle war wieder der Verstand mit seiner Angst vor dem Unbekannten und mit der dringenden Notwendigkeit getreten, mit beiden Füßen auf der Erde zu stehen.
«Nach dem Abendessen«, antwortete er.
Petrus bat den Hotelbesitzer, den Fernseher einzuschalten, jedoch ohne Ton. Er meinte, so könne ich am besten zuhören, ohne zu viele Fragen zu stellen, weil ein Teil von mir das ansehen würde, was auf dem Bildschirm passierte. Er fragte mich, bis zu welchem Zeitpunkt meine Erinnerung zurückreiche.
Ich antwortete ihm, daß ich mich an alles außer an unseren Weg zum Brunnen erinnern könne.
«Das ist unwichtig«, antwortete er. Im Fernsehen begann irgendein Film, in dem es um Kohlebergwerke ging. Die Darsteller trugen Kleidung der Jahrhundertwende.»Gestern, als ich das Drängen deines Boten spürte, wußte ich, daß dir auf dem Jakobsweg ein Kampf bevorstand. Du bist hier, um dein Schwert zu finden und die Praktiken der R.A.M. zu lernen. Doch jedesmal wenn ein Führer einen Pilger geleitet, gibt es mindestens eine Situation, die sich der Kontrolle beider entzieht und die so etwas wie eine Prüfung der praktischen Umsetzung des inzwischen Gelernten ist. In deinem Falle war es die Begegnung mit dem Hund.
Die Einzelheiten des Kampfes und warum Dämonen häufig in Tieren leben, erkläre ich dir ein andermal. Wichtig ist jetzt, daß du begreifst, daß diese Frau bereits an den Fluch gewöhnt war.
Für sie war er etwas Normales, in das sie sich geschickt hatte, und die Engherzigkeit der Welt erschien ihr als etwas Gutes.
Sie hatte gelernt, sich mit wenigem zufriedenzugeben, obwohl das Leben großzügig ist und viele Geschenke für uns bereithält.
Als du dieser armen Alten die Dämonen ausgetrieben hast, brachtest du ihr Universum aus dem Gleichgewicht. Vor ein paar Tagen haben wir über die Schmerzen gesprochen, die Menschen sich selbst zufügen. Wenn wir ihnen das Gute zu zeigen versuchen, ihnen zeigen wollen, daß das Leben großzügig ist, weisen sie dieses Ansinnen häufig zurück, als stamme es vom Dämon. Sie wagen nicht, etwas vom Leben zu fordern, weil die Angst vor der Niederlage zu groß ist. Doch wer den guten Kampf kämpfen will, der muß die Welt als einen unendlich großen Schatz ansehen, der darauf wartet, entdeckt und erobert zu werden.«
Petrus fragte mich, ob ich wisse, was ich hier auf dem Jakobsweg mache.
«Ich bin auf der Suche nach meinem Schwert«, antwortete ich.
«Und wozu willst du das Schwert haben?«
«Weil es mir die Macht und die Weisheit der >Tradition< verleihen wird.«
Ich merkte, daß ihn meine Antwort nicht ganz zufriedenstellte.
Doch er fuhr fort:
«Du bist auf der Suche nach einer Belohnung. Du wagst zu träumen und tust alles, um diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Bis du es gefunden hast, mußt du genau wissen, was du mit deinem Schwert tun wirst. Doch etwas spricht für dich: Du suchst nach einer Belohnung. Du gehst den Jakobsweg nur, weil du für deine Anstrengung belohnt werden willst. Ich habe durchaus bemerkt, daß du alles, was ich dir beibringe, anwendest und dabei ein praktisches Ziel verfolgst.
Das ist sehr positiv.
Du mußt nur noch die Praktiken der R.A.M. mit deiner Intuition vereinen. Die Sprache deines Herzens wird die richtige Art bestimmen, dein Schwert zu finden und zu benutzen.
Andernfalls werden sich die Exerzitien und die Praktiken der R.A.M. in der nutzlosen Weisheit der >Tradition< verlieren.«
Petrus hatte mir das auf andere Art schon öfter gesagt, und obwohl ich ihm zustimmte, war es nicht das, was ich wissen wollte. Es waren zwei Dinge geschehen, für die ich keine Erklärung hatte: Ich hatte in fremden Zungen gesprochen und war von einem Gefühl der Freude und Liebe durchflutet worden, nachdem ich den Hund verjagt hatte.
«Das Gefühl der Freude hattest du, weil dein Handeln von Agape bestimmt war.«
«Du redest so viel von Agape, und bis jetzt hast du mir noch nicht genau erklärt, was das ist. Hat es mit einer höheren Form der Liebe zu tun?«
«Genau. Der Augenblick, in dem du diese intensive Liebe kennenlernen wirst, die den Liebenden verschlingt, ist nicht mehr weit. Dennoch begnüge dich damit zu wissen, daß sie sich frei in dir manifestiert.«
«Ich hatte dieses Gefühl schon häufiger. Doch es hielt nicht so lange an und war auch anders. Es überkam mich immer nach einem beruflichen Erfolg, wenn ich etwas geschafft hatte oder wenn ich ahnte, daß das Schicksal es gut mit mir meinte.
Dennoch verschloß ich mich diesem Gefühl und fürchtete mich davor, es intensiv auszuleben. Als könnte diese Freude den Neid anderer wecken oder als wäre ich ihrer unwürdig.«
«Bevor wir die Agape kennenlernen, machen wir das alle«, sagte er, während er auf den Fernsehbildschirm starrte. Ich fragte ihn dann nach den fremden Zungen, in denen ich gesprochen hatte.
«Das hat mich überrascht. Dies is t keine Praktik des Jakobsweges. Es ist ein Charisma und gehört zu den Praktiken der R.A.M. auf dem Pilgerweg nach Rom.«
Ich hatte schon vom Charisma gehört, doch ich bat Petrus, es mir genauer zu erklären.
«Die Charismen sind Gaben des Heiligen Geistes, die sich im Menschen manifestieren. Es gibt ganz unterschiedliche Arten: die Gabe des Heilens, die Gabe, Wunder zu tun, die Gabe der Prophezeiung, um nur einige zu nennen. Du hast die Gabe der Sprachen erfahren, die Gabe, in fremden Zungen zu sprechen, die den Aposteln mit dem Pfingstwunder zuteil wurde. Die Gabe, in fremden Zungen zu sprechen, ist Ausdruck der unmittelbaren Verbindung mit dem Heiligen Geist. Sie dient machtvollen Gebeten, Exorzismen — wie in deinem Fall — und der Weisheit. Die Tage unserer Wanderung auf dem Jakobsweg und die Praktiken der R.A.M. haben, einmal abgesehen von der Gefahr, die der Hund für dich darstellte, zufällig die Gabe der Sprachen in dir geweckt. Das wird nicht wieder geschehen, es sei denn, du findest dein Schwert und beschließt, den Pilgerweg nach Rom zu gehen. Jedenfalls ist es ein gutes Vorzeichen.«
Ich schaute auf den stummgeschalteten Fernseher. Die Geschichte in den Kohlebergwerken war zu einer Folge von Bildern von Männern und Frauen geworden, die ständig redeten, stritten, sich unterhielten. Hin und wieder küßte ein Schauspieler eine Schauspielerin.
«Noch etwas«, sagte Petrus.»Es könnte sein, daß du den Hund wieder triffst. Versuch in diesem Falle nicht, die Gabe der Sprachen in dir zu wecken, weil sie nicht wiederkehren wird.
Vertraue auf das, was deine Intuition dir sagen wird. Ich werde dir eine weitere Praktik der R.A.M. beibringen, die diese Intuition in dir weckt. Du wirst dadurch beginnen, die geheime Sprache deines Geistes verstehen zu lernen, und sie wird dir in deinem Leben jederzeit sehr nützlich sein. «Petrus schaltete den Fernseher just in dem Augenblick aus, als ich anfing, mich für die Handlung zu interessieren. Dann ging er an die Bar und bestellte eine Flasche Mineralwasser. Wir tranken beide etwas davon, und dann nahm er die Flasche mit nach draußen.