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Petrus stand auf, und seine Gestalt hob sich scharf gegen den im Abendlicht lodernden Himmel ab. Da ich sitzen geblieben war, wirkte er überwältigend, wie ein Riese.

«Eine Frage habe ich noch, Petrus.«

«Und die wäre?«

«Heute morgen warst du schweigsam und merkwürdig. Hast du noch vor mir geahnt, daß der Hund kommen würde?«

«Als wir gemeinsam die alles verschlingende Liebe erlebten, teilten wir die Erfahrung des Absoluten. Das Absolute zeigt allen Menschen, wer sie wirklich sind, ein unendliches Netz aus Ursache und Wirkung, wobei jede kleinste Geste des einen sich im Leben des anderen widerspiegelt. Heute morgen war dieser Teil des Absoluten noch sehr lebendig in meiner Seele. Ich hatte nicht nur dein Ich, sondern alles gesehen, was es auf der Welt gibt, ohne Grenzen von Zeit und Raum. Jetzt hat sich die Wirkung etwas gelegt und wird nur beim nächsten Mal, wenn wir die Übung der alles verzehrenden Liebe machen werden, wieder aufleben.«

Ich erinnerte mich an Petrus' schlechte Laune an diesem Morgen. Wenn das, was er sagte, stimmte, dann mußte die Welt einen schwierigen Augenblick durchmachen.

«Ich werde im Parador auf dich warten«, sagte er im Weggehen.»Ich werde deinen Namen am Empfang hinterlassen.«

Ich folgte ihm mit meinem Blick, solange ich konnte. Auf den Feldern zu meiner Linken hatten die Bauern ihre Arbeit beendet und gingen nach Hause. Ich beschloß das Exerzitium zu machen, sobald es ganz dunkel war. Ich war ruhig. Dies war das erste Mal seit dem Beginn meiner Wanderung auf dem Jakobsweg, daß ich vollkommen allein war. Ich erhob mich und erkundete die Umgebung. Doch die Nacht fiel schnell herein, und ich beschloß zum Baum zurückzukehren, weil ich fürchtete, mich zu verirren. Da es kein Licht gab, das mich hätte blenden können, wäre es durchaus möglich gewesen, im Licht der Sichel des zunehmenden Mondes den Pfad zu sehen und nach Santo Domingo de la Calzada zu gelangen.

Bis zu diesem Augenblick hatte ich keinerlei Angst und glaubte, es würde sehr viel Phantasie notwendig sein, um in mir die Furcht vor einem gräßlichen Tod zu wecken. Doch so alt man auch war: Wenn die Nacht hereinbrach, brachte sie stets die seit unserer Kindheit in der Seele verborgenen Ängste mit sich.

Je dunkler es wurde, desto unbehaglicher fühlte ich mich.

Ich befand mich ganz allein auf dem Feld, und wenn ich schreien würde, gab es niemanden, der mich hörte. Mir fiel ein, daß ich am Morgen durchaus einen Kreislaufkollaps hätte haben können. Niemals zuvor in meinem Leben war mein Herz so außer Kontrolle geraten.

Und wenn ich nun gestorben wäre? Das Leben wäre zu Ende gewesen, das war die logische Folgerung. Auf meinem Weg der

>Tradition< hatte ich schon mit vielen Geistern gesprochen. Ich war nur vollkommen sicher, daß es ein Leben nach dem Tode gab, doch ich war nie darauf gekommen zu fragen, wie sich der Übergang vom Leben zum Tode vollzog. Von einer Dimension in die andere überzugehen mußte furchtbar sein. Da konnte man noch so gut vorbereitet sein. Wäre ich beispielsweise an diesem Morgen gestorben, wären der Jakobsweg, die Jahre meiner Ausbildung, die Sehnsucht nach meiner Familie und das in meinem Gürtel versteckte Geld umsonst gewesen. Ich erinnerte mich an eine Pflanze, die in Brasilien auf meinem Arbeitstisch stand. Die Pflanze würde es weiter geben, so wie alle andere Pflanzen, die Autobusse, der Verkäufer an der Ecke, der immer etwas mehr verlangt, die Telefonistin bei der Auskunft. All diese kleinen Dinge, die hatten verschwinden können, wenn ich tatsächlich heute morgen einen Kollaps gehabt hätte, wurden plötzlich ungeheuer wichtig für mich. Sie, und nicht die Sterne oder die Weisheit, sagten mir, daß ich lebendig war.

Die Nacht war ziemlich dunkel, und am Horizont konnte man den schwachen Widerschein der Stadt erkennen. Ich legte mich auf den Boden und schaute in die Zweige des Baumes über mir. Ich begann seltsame Geräusche zu hören, alle möglichen Geräusche. Sie stammten von den nachtaktiven Tieren, die jetzt auf die Jagd gingen. Petrus konnte nicht alles wissen, wenn er genauso Mensch war wie ich. Wie sollte ich sicher sein, daß es nicht doch Giftschlangen gab. Und Wölfe, die ewigen europäischen Wölfe, sie könnten doch beschlossen haben, eben in dieser Nacht hier umherzustreifen, weil sie meine Witterung aufgenommen hatten. Ein lauteres Geräusch wie das eines zerbrechenden Zweiges ließ mich aufschrecken und mein Herz wieder heftiger schlagen.

Ich wurde immer angespannter. Es war wohl besser, die Übung gleich zu machen und dann ins Hotel zu gehen. Ich begann mich zu entspannen und faltete die Hände auf der Brust, lag da wie ein Leichnam. Irgend etwas neben mir bewegte sich. Ich schreckte hoch.

Es war nichts. Die Nacht hatte alles eingenommen und die Schrecken des Menschen mit sich gebracht. Ich legte mich wieder hin, diesmal entschlossen, jede Art von Angst für das Exerzitium zu nutzen. Ich merkte, daß ich schwitzte, obwohl die Temperatur ziemlich stark gefallen war.

Ich stellte mir vor, wie der Sarg geschlossen und zugeschraubt wurde. Ich lag reglos da, doch ich war lebendig, hätte meiner Familie gern gesagt, daß ich alles miterlebte, daß ich sie liebte, doch kein Ton kam aus meinem Mund. Mein Vater und meine Mutter weinten, um den Sarg herum standen meine Freunde, und ich war allein! So viele geliebte Menschen waren da, und niemand begriff, daß ich lebte, daß ich noch nicht alles getan hatte, was ich auf dieser Welt hatte tun wollen. Ich versuchte verzweifelt, die Augen zu öffnen, ein Zeichen zu geben, gegen den Sargdeckel zu schlagen. Doch nichts in meinem Körper rührte sich. Ich spürte, wie der Sarg schwankte, sie trugen mich zu Grabe.

Ich konnte das Scheppern der Ringe in den Eisenhalterungen, die Schritte der Menschen und die eine oder andere Stimme hören. Jemand sagte, es würde später ein Abendessen geben, ein anderer meinte, ich sei früh gestorben. Der Duft der Blumen um meinen Kopf herum begann mir die Luft zu nehmen.

Ich erinnerte mich, daß ich aus Furcht, einen Korb zu bekommen, zwei oder drei Frauen nicht den Hof gemacht hatte.

Ich erinnerte mich auch an einige Situationen, in denen ich, Im Glauben, ich könnte es auch noch später tun, etwas aufgeschoben hatte, was ich eigentlich sofort tun wollte. Ich tat mir selbst unendlich leid, nicht nur, weil ich lebendig begraben wurde, sondern weil ich Angst vor dem Leben hatte. Warum Angst vor einem Nein haben, warum etwas aufschieben, wo doch das Wichtigste ist, das Leben in vollen Zügen zu genießen? Da lag ich nun in einen Sarg gesperrt, und es war zu spät, um umzukehren und den Mut zu zeigen, den ich hätte haben sollen.

Da lag ich nun und war mein eigener Judas gewesen, hatte mich selbst verraten. Da lag ich nun und konnte keinen Muskel bewegen, mein Kopf sehne um Hilfe, und die Menschen dort draußen standen mitten im Leben, fragten sich, was sie heute abend tun würden, blickten die Statuen und die Häuser an, die ich nie wieder sehen sollte. Ein Gefühl großer Ungerechtigkeit erfüllte mich, weil ich begraben wurde, während die anderen weiterlebten. Besser wäre es gewesen, es hatte eine Katastrophe gegeben und wir alle würden jetzt zusammen im selben Boot sitzen, das uns zum selben schwarzen Punkt trug, zu dem ich jetzt getragen wurde. Hilfe! Ich lebe, ich bin nicht gestorben, mein Verstand funktioniert noch!

Sie stellten meinen Sarg am Rand der Grube ab. Sie werden mich begraben! Meine Frau wird mich vergessen, wird einen anderen heiraten und das Geld ausgeben, das wir all diese Jahre zusammengespart haben! Doch was bedeutete das jetzt noch? Ich will jetzt bei ihr sein, denn ich lebe!

Ich höre Weinen, fühle aus meinen Augen Tränen rinnen. Wenn sie jetzt den Sarg öffnen, sähen sie mich und würden mich retten. Doch ich spüre nur, daß der Sarg in die Grube heruntergelassen wird. Plötzlich ist alles dunkel. Vorher war noch ein Lichtschein durch eine Ritze gedrungen, doch nun herrscht vollkommene Dunkelheit. Die Schaufeln der Totengräber klopfen die Erde fest, und ich lebe! Bin lebendig begraben! Ic h spüre, wie die Luft drückend wird, der Blumenduft wird unerträglich, und ich höre, wie sich die Schritte der Leute entfernen. Der Schrecken ist allumfassend. Ich kann mich nicht bewegen, und wenn sie jetzt gehen, wird es bald Nacht sein, und niemand wird mich im Grab klopfen hören!