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Doch von diesem Tag an begann ich auch zu bemerken, daß es auch Meister gibt, die, wie mein Meister sagte,»während des Prozesses der Erleuchtung wahnsinnig wurden«. Das sind Menschen, die den Meistern in allem fast gleichen, auch was ihre Kräfte betrifft: Einen von ihnen habe ich gesehen, wie er in fünfzehnminütiger Konzentration ein Samenkorn zum Sprießen brachte. Doch dieser Mann — und einige andere — hatte bereits viele Schüler in den Wahnsinn und in die Verzweiflung getrieben. Es hatte Leute gegeben, die waren in psychiatrischen Anstalten gelandet, und es gibt zumindest einen bestätigten Selbstmord. Diese Männer stehen auf der sogenannten» schwarzen Liste «der >Tradition<, doch sie lassen sich nicht kontrollieren, und viele von ihnen sind noch heute tätig.

Diese Geschichte schoß mir durch den Kopf, als ich diesen Wasserfall anschaute, der unmöglich erklommen werden konnte. Ich dachte an die lange Zeit, die Petrus und ich zusammen gewandert waren, ich erinnerte mich an den Hund, der mich angegriffen und dem ich nichts getan hatte, an Petrus'

Aufbrausen im Restaurant wegen des jungen Mannes, der uns bedient hatte, an seine Trunkenheit während der

Hochzeitsfeier. Nur daran konnte ich mich erinnern.

«Petrus, ich werde diesen Wasserfall auf gar keinen Fall hinaufklettern. Aus einem einzigen Grunde: Es ist unmöglich. «Statt zu antworten, setzte er sich schweigend ins Gras. Ich setzte mich neben ihn. Wir schwiegen eine geschlagene Viertelstunde. Sein Schweigen verwirrte mich, und ich ergriff als erster das Wort.

«Petrus, ich will diesen Wasserfall nicht hinaufklettern, weil ich fallen könnte. Ich weiß, daß ich nicht sterben werde, denn als ich das Antlitz meines Todes sah, sah ich auch den Tag, an dem er kommen wird. Doch ich könnte für den Rest meines Lebens zum Krüppel werden.«

«Paulo, Paulo…«, rügte er lächelnd. Er hatte sich vollkommen verändert. In seiner Stimme war etwas von dieser alles verschlingenden Liebe, und seine Augen leuchteten.

«Du wirst sicher gleich sagen, daß ich mein Gehorsamsgelübde breche, das ich abgegeben habe, bevor ich den Weg antrat.«

«Nein, nein, du brichst das Gelübde nicht. Du hast keine Angst und bist auch nicht faul. Zudem wirst du nicht gedacht haben, daß ich einen unnützen Befehl gebe. Du willst nicht hinaufklettern, weil du an die >Schwarzen Meister< denkst. Von deiner Entscheidungsfreiheit Gebrauch machen bedeutet nicht, ein Gelübde zu brechen. Diese Freiheit wird einem Pilger niemals versagt.«

Ich blickte auf den Wasserfall und dann wieder zu Petrus. Ich schätzte die Möglichkeiten eines Aufstiegs ab und sah keine.

«Hör gut zu«, sagte er.»Ich werde vor dir hinaufklettern, ohne irgendeine Gabe zu benutzen. Und ich werde es schaffen.

Wenn ich es schaffe, dann nur, weil ich weiß, wohin ich die Füße setzen muß. Du mußt es genauso machen. Auf diese Art hebe ich deine Entscheidungsfreiheit auf. Erst wenn du dich weigerst, nachdem du mich hast hinaufklettern sehen, brichst du dein Gelübde.«

Petrus begann seine Turnschuhe auszuziehen. Er war mindestens zehn Jahre älter als ich, und wenn er es schaffte, hatte ich ihm nichts mehr entgegenzusetzen. Ich schaute den Wasserfall an, und mir wurde ganz mulmig.

Doch Petrus rührte sich nicht von der Stelle. Barfuß saß er da, schaute in den Himmel und sagte:»Einige Kilometer von hier entfernt ist im Jahre 1502 einem Hirten die Jungfrau Maria erschienen. Heute ist ihr Fest, das Fest der Heiligen Jungfrau des Weges, und ihr widme ich meinen Sieg. Ich rate dir, dasselbe zu tun. Schenk ihr nicht den Schmerz, den du in den Füßen spürst, und auch nicht die Wunden, die dir die Steine an den Händen zufügen werden.

Alle bieten immer nur den Schm erz ihrer Buße dar. Dann ist nichts Verwerfliches, doch ich glaube, daß es sie glücklich macht, wenn die Menschen ihr auch ihre Freude darbieten.«

Ich hatte keine Lust zu reden. Ich zweifelte noch immer daran, daß Petrus es schaffen würde, die Wand hinaufzuklettern. Ich hielt das alles für eine Farce und glaubte, daß er mich im Grunde nur zu etwas überreden wollte, was mir widerstrebte.

Für alle Fälle schloß ich dennoch die Augen und betete zur Jungfrau des Weges. Ich versprach ihr, daß ich, wenn Petrus und ich es schaffen würden, die Wand hinaufzuklettern, eines Tages an diesen Ort zurückkehren würde.

«Alles, was du bis heute gelernt hast, hat nur einen Sinn, wenn es auf etwas angewandt wird. Erinnere dich daran, daß ich dir gesagt habe, der Jakobsweg sei der Weg der gewöhnlichen Menschen. Tausendmal habe ich das gesagt. Auf dem Jakobsweg und im Leben ist Weisheit nur dann etwas wert, wenn sie dem Menschen hilft, Hindernisse zu überwinden.

Ein Hammer wäre ein sinnloser Gegenstand, gäbe es nicht Nägel, die er einschlagen kann. Und selbst wenn es Nägel gibt, die er einschlagen kann, hätte der Hammer keine Aufgabe, wenn ich nur denken würde: >Diese Nägel kann ich mit zwei Schlägen einschlagen.< Der Hammer muß agieren, sich der Hand des Besitzers anvertrauen und seiner Aufgabe gemäß benutzt werden.«

Mir fielen die Worte des Meisters in Itatiaia wieder ein:»Wer ein Schwert besitzt, muß es ständig auf die Probe stellen, damit es nicht in der Scheide verrostet.«

«Der Wasserfall ist der Ort, an dem du alles, was du bislang gelernt hast, in die Praxis umsetzen wirst«, sagte mein Führer.

«Einen Vorteil hast du bereits: Du kennst das Datum deines Todes, und die Angst wird dich nicht lahmen, wenn du schnell entscheiden mußt, wo du dich abstützen sollst. Doch vergiß nicht, daß du mit dem Wasser arbeiten und es für deine Zwecke nutzen mußt. Und vergiß auch nicht, deinen Fingernagel ins Nagelbett des Daumens zu graben, wenn ein böser Gedanke dich beherrscht. Vor allem mußt du dich die ganze Zeit auf die alles verschlingende Liebe stützen, weil sie dich führt und all deine Schritte rechtfertigt.«

Petrus unterbrach sich, zog sein Hemd und die Bermudas aus.

Vollkommen nackt stieg er in das kalte Wasser der kleinen Lagune, tauchte ganz ein und streckte die ausgebreiteten Arme zum Himmel. Ich sah, daß er glücklich war und das kühle Wasser und den Regenbogen genoß, den die Wassertropfen um uns herum bildeten.

«Da ist noch etwas«, sagte er, bevor er durch den Schleier des Wasserfalles ging.»Dieser Wasserfall wird dich lehren, ein Meister zu sein. Ich werde hinaufsteigen, doch zwischen dir und mir wird immer ein Wasserschleier liegen. Ich werde hinaufsteigen, ohne daß du sehen kannst, wohin ich meine Füße setze und wohin meine Händen greifen.

Auch ein Schüler wird niemals die Schritte seines Meisters nachahmen können. Denn jeder hat seine eigene Art zu leben, mit den Schwierigkeiten und mit den Erfolgen fertig zu werden.

Lehren heißt zeigen, daß etwas möglich ist. Lernen heißt, seine eigenen Möglichkeiten ausloten.«

Mehr sagte er nicht. Er trat hinter den Schleier des Wasserfalls und begann hinaufzuklettern. Ich sah seine Gestalt nur wie durch Milchglas. Langsam und stetig stieg er hinauf. Je näher er dem Ziel kam, desto mehr fürchtete ich mich, denn nun war bald ich dran. Schließlich kam der schwierigste Moment: das herunterstürzende Wasser zu durchqueren. Eigentlich hätte ihn die Wucht des Wassers niederwerfen müssen. Doch Petrus'

Kopf tauchte auf, und das Wasser wurde zu seinem silbrigen Mantel. Dann hievte er sich mit einer einzigen Bewegung empor, und ich verlor ihn sekundenlang aus den Augen. Dann erschien Petrus endlich an einem der Ufer. Sein Körper war naß, glitzerte in der Sonne. Er lächelte.