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«Los!«rief er, indem er mir zuwinkte.»Jetzt bist du an der Reihe.«

Jetzt war ich an der Reihe. Oder ich mußte meinem Schwert auf immer entsagen.

Ich zog mich ganz aus und betete wieder zur Heiligen Jungfrau des Weges. Dann machte ich einen Kopfsprung ins Wasser. Es war eiskalt, und mein Körper wurde beim Eintauchen ganz steif.

Doch dann spürte ich das wunderbare Gefühl, am Leben zu sein. Ich watete auf den Wasserfall zu.

Das Wasser, das auf meinen Kopf niederrauschte, gab mir wieder den absurden» Realitätssinn «zurück, der den Menschen dann schwächt, wenn er seinen Glauben und seine Kraft am meisten braucht. Ich begriff, daß der Wasserfall stärker war, als ich gedacht hatte, und wenn er sich direkt auf meine Brust ergoß, würde er mich umwerfen, auch wenn ich mit beiden Füßen fest im See stand. Ich bahnte mir einen Weg durch das Wasser und stand dann zwischen dem Wasservorhang und dem Stein in einem kleinen Zwischenraum, in den ich, wenn ich mich eng an den Fels preßte, gerade mit meinem Körper paßte. Und da sah ich, daß die Aufgabe leichter war, als ich gedacht hatte.

Das, was ich anfangs für eine glatte Wand gehalten hatte, war in Wahrheit ein Fels mit vielen Einbuchtungen. Mir wurde bei dem Gedanken ganz schwindelig, daß ich aus Angst vor einem glatten Stein beinahe auf mein Schwert verzichtet hatte, der in Wahrheit ein Felsen war, einer von der Art, die ich schon zig Male erklommen hatte. Mir war, als hörte ich Petrus sagen:

«Siehst du? Hat man erst ein Problem gelöst, wirkt es umwerfend einfach.«

Ich begann, das Gesicht dicht am Gestein, den feuchten Fels hinaufzuklettern. In zehn Minuten hatte ich die Wand fast ganz erklommen. Doch der Sieg, den ich mit dem Aufstieg errungen hatte, nützte mir nichts, wenn es mir nicht gelang, die kurze Strecke durch den Wasserfall hindurch zu überwinden, die mich vom freien Himmel trennte. Dort lag die Gefahr, und es war eine Gefahr, die Petrus, ich weiß nicht wie, gemeistert hatte. Ich betete noch einmal zur Heiligen Jungfrau des Weges, zu einer Jungfrau, von der ich nie zuvor gehört hatte und in die ich dennoch in diesem Augenblick meinen ganzen Glauben, meine ganze Hoffnung auf einen Sieg setzte. Vorsichtig hielt ich zuerst mein Haar, dann meinen Kopf in das reißende Wasser, das über mir toste.

Das Wasser umhüllte mich ganz und trübte meine Sicht. Ich spürte seinen Aufprall und klammerte mich fest an den Felsen.

Dabei hielt ich den Kopf gesenkt, um so eine Luftblase zu bilden, in der ich atmen konnte. Ich vertraute meinen Händen und meinen Füßen vollkommen. Meine Hände hatten schon ein altes Schwert gehalten, meine Füße waren den Jakobsweg gegangen, und sie halfen mir jetzt. Dennoch machte mich das Tosen des Wassers fast taub, und ich rang nach Atem. Ich beschloß, den Wasserstrom mit dem Kopf zu durchstoßen, und sekundenlang war alles um mich herum schwarz. Ich hielt mich mit Händen und Füßen an den Vorsprüngen, doch der Lärm des Wassers schien mich an einen Ort zu tragen, einen geheimnisvollen fernen Ort, an dem nichts mehr wichtig war, wo ich mich physisch nicht überfordern mußte und wo es nur Ruhe und Frieden gab.

Meine Füße und Hände widerstanden der tödlichen Versuchung, mich einfach fallen zu lassen. Und mein Kopf tauchte langsam wieder aus dem Wasser auf. Eine innige Liebe zu meinem Körper erfaßte mich, der mir den abenteuerlichen Weg zu meinem Schwert bestehen half.

Als mein Kopf ganz aus dem Wasser heraus war, sah ich die Sonne über mir leuchten, und ich atmete die Luft um mich herum tief ein. Das gab mir wieder Kraft. Ich schaute um mich und sah wenige Zentimeter über mir die Hochebene, auf der wir zuvor gewandert waren und die das Ende unserer Tagesreise war. Es fiel mir schwer, nicht sofort loszustürzen, doch wegen des fallenden Wassers konnte ich keine Einbuchtung sehen, und so verharrte ich in der schwierigsten Position des gesamten Aufstiegs. Das Wasser prallte gegen meine Brust, als wollte es mich zur Erde zurückzwingen, die ich um meiner Träume willen zu verlassen gewagt hatte.

Jetzt war nicht der Moment, um an Meister und Freunde zu denken. Und ich konnte auch nicht den Kopf wenden, um nachzusehen, ob Petrus da war und mich notfalls retten konnte, falls ich abrutschen sollte. Er hat sicher diesen Aufstieg schon Tausende von Malen gemacht, dachte ich, und weiß genau, daß ich seine Hilfe verzweifelt brauche. Doch er läßt mich im Stich. Oder vielleicht läßt er mich auch nicht im Stich und steht hinter mir, doch ich kann den Kopf nicht wenden, weil ich sonst das Gleichgewicht verliere. Ich muß meinen Sieg ganz allein erringen.

Meine Füße und eine Hand krallten sich weiter in den Fels, während sich die andere Hand löste und versuchte, in Einklang mit dem Wasser zu gelangen. Sie durfte nicht den kleinsten Widerstand leisten, denn ich brachte bereits all meine Kräfte auf. Meine Hand, die das wußte, wurde zu einem Fisch, der sich dem Wasser hingab, jedoch genau wußte, was er wollte.

Mir fielen die Filme meiner Kindheit wieder ein, in denen ich Lachse gesehen hatte, die Wasserfälle hinaufsprangen, weil sie ein Ziel hatten und es genau wie ich erreichen mußten.

Der Arm reckte sich langsam empor, machte sich wie ein Lachs die Kraft des Wassers zunutze, tauchte wieder ins Wasser ab, suchte nach Halt an den über die Jahrhunderte glattgespülten Steinen. Irgendwo mußte es doch eine Einbuchtung geben: Wenn Petrus es geschafft hatte, schaffte ich das auch. Alles tat mir weh, kurz vor dem Ziel erlahmten meine Kräfte, verlor ich die Zuversicht. Häufiger schon hatte ich in meinem Leben im letzten Augenblick verloren: Ich hatte einen Ozean durchschwömmen und war an den letzten kleinen Wellen, die sich am Ufer brachen, gescheitert. Doch jetzt war ich auf dem Jakobsweg, und dieses Scheitern konnte sich nicht ewig wiederholen — heute mußte ich siegen.

Die freie Hand fuhr über den glatten Stein. Der Druck des Wassers nahm zu. Ich spürte, daß der Rest meines Körpers sich verkrampfte. Da plötzlich fand die freie Hand eine Einbuchtung im Stein. Sie war nicht groß und lag außerhalb der Aufstiegsroute. Die andere Hand konnte sich dort aufstützen, wenn sie an der Reihe war. Ich merkte mir die Stelle, und die freie Hand ging weiter auf die Suche nach meiner Rettung.

Wenige Zentimeter von der ersten Einbuchtung wartete eine andere auf mich. Das war sie. Das war die Stelle, die seit Jahrhunderten den Pilgern auf dem DER ATEM DER R.A.M.

Lasse alle Luft aus deinen Lungen strömen, leere sie soweit wie möglich. Dann atme langsam ein, während du die Arme hebst. Konzentriere dich beim Einatmen, damit Liebe, Friede und Einklang mit dem Universum in dich einziehen.

Halte so lange wie möglich bei erhobenen Armen die Luft an und genieße die innere und äußere Harmonie. Dann stoße schnell die ganze Luft aus und sprich dabei das Wort R.A.M.

Wiederhole dies fünf Minuten lang. Jakobsweg als Stütze gedient hatte. Ich klammerte mich mit aller Kraft dort fest. Die andere Hand löste sich, wurde von der Macht des Flusses zurückgeworfen. Doch sie beschrieb einen großen Bogen im Himmel und fand die Stelle, die sie erwartete.

Mein Körper folgte dann in einer einzigen Bewegung dem Weg, den meine Hände gebahnt hatten, und ich hievte mich nach oben.

Der letzte große Schritt war getan. Mein ganzer Körper durchstieß das Wasser, und im Augenblick darauf war der Wasserfall nur mehr ein zahmes Bächlein. Ich schleppte mich ans Ufer und überließ mich meiner Erschöpfung. Die Sonne brannte auf meinen Körper und wärmte mich. Und ich wurde mir wieder bewußt, daß ich gesiegt hatte, daß ich lebendig war wie vorher, als ich in dem See dort unten gestanden hatte.

Durch das Rauschen des Wassers hindurch hörte ich Petrus'

Schritte näher kommen.