Ich wollte aufstehen, um meine Freude zu zeigen, doch mein erschöpfter Körper weigerte sich.
«Bleib ruhig liegen, ruh dich aus«, sagte er.»Versuch langsam zu atmen.«
Ich fiel sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als ich erwachte, war die Sonne schon quer über den ganzen Himmel gewandert, und Petrus, der inzwischen wieder angekleidet war, reichte mir meine Wäsche und sagte, wir müßten nun weitergehen.
«Ich bin zu müde«, wandte ich ein.
«Laß nur. Ich werde dich lehren, Energie aus allem zu beziehen, was dich umgibt.«
Und Petrus lehrte mich den Atem der R.A.M.
Ich machte die Übung fünf Minuten lang und fühlte mich besser.
Ich erhob mich, zog mich an und nahm meinen Rucksack.
«Komm her«, sagte Petrus.
Ich ging bis zum Rand der Hochebene. Unter meinen Füßen toste der Wasserfall.»Von hier oben sieht es bedeutend einfacher aus als von unten«, sagte ich.
«Genau. Und wenn ich dir diesen Ausblick vorher gezeigt hätte, wäre das ein Verrat an dir gewesen. Du hättest deine Möglichkeiten falsch eingeschätzt.«
Ich war noch schwach und machte die Übung noch einmal.
Allmählich kam das Universum um mich herum in Einklang mit mir und drang in mein Herz. Ich fragte Petrus, warum er mir den Atem der R.A.M. nicht schon früher beigebracht habe, denn ich sei auf dem Jakobsweg häufig matt und müde gewesen.
«Weil du es nie gezeigt hast«, sagte er lachend und fragte mich, ob ich noch ein paar von diesen köstlichen Butterkeksen aus Astroga hätte.
Die Verrücktheit
Seit drei Tagen machten wir nun schon diesen Gewaltmarsch.
Petrus weckte mich vor Tagesanbruch, und erst gegen neun Uhr abends machten wir Rast. Gerastet wurde jetzt nur noch wahrend der Mahlzeiten, denn mein Führer hatte die Siesta am frühen Nachmittag abgeschafft. Ich hatte das Gefühl, daß er ein geheimnisvolles Programm erfüllte, das mir jedoch nicht mitgeteilt wurde.
Hinzu kam, daß er sein Verhalten vollkommen geändert hatte.
Anfangs dachte ich, daß meine Zweifel am Wasserfall der Grund waren, doch das war es nicht. Er war gereizt und sah andauernd auf die Uhr, bis ich ihn daran erinnerte, daß er gesagt hatte, wir selbst schüfen uns unseren Zeitbegriff.
«Du wirst ja jeden Tag klüger«, entgegnete er,»hoffentlich setzt du diese Klugheit im entscheidenden Moment auch ein.«
Eines Nachmittags war ich vom schnellen Wandern so erschöpft, daß ich einfach nicht mehr aufstehen konnte. Da befahl mir Petrus, mein Hemd auszuziehen und mein Rückgrat an einen nahen Baum zu lehnen. Schon nach wenigen Minuten fühlte ich mich besser. Er erklärte mir, daß die Pflanzen, vor allem ausgewachsene Bäume, imstande sind, Harmonie zu übertragen, wenn jemand sein Nervenzentrum an den Stamm lehnt. Er sprach ausführlich über die physischen, energetischen und spirituellen Eigenschaften der Pflanzen.
Da ich das alles schon gelesen hatte, machte ich mir nicht die Mühe, es zu notieren. Doch wenigstens glaubte ich jetzt nicht mehr, Petrus sei sauer auf mich, und ich konnte sein Schweigen mit mehr Respekt hinnehmen, während er sich seinerseits bemühte, seine schlechte Laune nicht mehr an mir auszulassen.
Eines Morgens kamen wir an eine riesige Brücke, die viel zu groß für das kleine Rinnsal war, das unter ihr durchfloß. Es war Sonntag und noch früh am Tag, und die Tavernen und Bars des nahen Städtchens waren noch geschlossen. Wir setzten uns nieder, um zu frühstücken.»Mensch und Natur haben gleichermaßen ihre Launen«, sagte ich, um ein Gespräc h in Gang zu bringen.»Da bauen wir schöne Brücken über Flüsse, die dann plötzlich ihren Lauf ändern.«
«Das ist die Dürre«, sagte er.»Iß schnell dein Brot auf, wir müssen weiter.«
Ich wollte wissen, warum er es so eilig hatte.
«Ich bin schon ziemlich lange auf dem Jakobsweg«, sagte er.
«Und in Italien wartet eine Menge Arbeit auf mich.«
Seine Antwort befriedigte mich nicht, auch wenn sie möglicherweise stimmte. Das konnte nicht der einzige Grund sein. Als ich noch einmal nachhakte, wechselte er das Thema.
«Was weißt du über diese Brücke?«
«Nichts«, gab ich zurück.»Selbst wenn es hier keine Dürre gäbe, wäre sie unverhältnismäßig groß. Ich glaube wirklich, daß der Fluß seinen Lauf geändert hat.«
«Darüber weiß ich nichts«, sagte er.»Doch sie ist auf dem Jakobsweg als Paso Honroso, >der Ehrenhafte Übergang< bekannt. Die Felder vor uns waren der Schauplatz blutiger Schlachten zwischen Sueben und Westgoten und später zwischen den Soldaten Alfonsos III. und den Mauren. Vielleicht ist sie so groß, damit all das Blut unter ihr durchfließen konnte, ohne die Stadt zu überschwemmen.«
Sein makabrer Humor verfing bei mir nicht, und als ich nicht lachte, fuhr er verwirrt fort:
«Dennoch waren es nicht die Truppen der Westgoten noch die triumphierenden Schreie Alfonsos III., die der Brücke ihren Namen gegeben haben, sondern eine Geschichte von Liebe und Tod.
In den ersten Jahrhunderten des Jakobsweges, als aus ganz Europa Pilger hierherströmten, kamen nicht nur Patres, Edelleute und sogar Könige, die dem Heiligen ihre Ehrerbietung darbringen wollten, sondern es kamen auch Wegelagerer und Straßenräuber. Die Geschichte kennt unzählige Fälle von Überfällen auf ganze Pilgerzüge und entsetzliche Verbrechen, die an einsamen Wanderern begangen wurden.«
«Alles wiederholt sich«, sagte ich zu mir selber.
«Daher beschlossen einige Ritter, die Pilger zu schützen, und jeder übernahm den Schutz einer bestimmten Wegstrecke.
Doch so wie die Flüsse ihren Lauf ändern, so ändern sich auch die Ideale der Menschen. Die fahrenden Ritter verjagten nicht nur die Bösewichter, sondern sie begannen sich untereinander den Ruhm streitig zu machen, der Stärkste und Mutigste auf dem Jakobsweg zu sein. Nicht lange, da begannen sie sich gegenseitig zu bekämpfen, und die Banditen trieben wieder ungestraft ihr Unwesen auf den Straßen.
Dies blieb so, bis sich 1434 ein Edelmann aus der Stadt Leon in eine Frau verliebte. Er hieß Don Suero de Quinones, war reich und mächtig und versuchte auf jede erdenkliche Art und Weise, die Hand seiner Angebeteten zu erringen. Doch diese Dame, deren Namen die Geschichte nicht überliefert hat, wollte diese unendliche Leidenschaft nicht einmal zur Kenntnis nehmen und wies seinen Heiratsantrag ab.«
Ich war gespannt zu hören, welche Verbindung es zwischen dieser verschmähten Liebe und dem Streit der fahrenden Ritter gab. Petrus, dem meine Neugier nicht entgangen war, meinte nur, er würde mir das Ende der Geschichte erst erzählen, wenn ich mein Brot aufgegessen hätte und wir wieder unterwegs wären.
«Du verhältst dich wie meine Mutter, als ich klein war«, sagte ich darauf. Doch ich schluckte das letzte Stück Brot herunter, nahm meinen Rucksack, und wir machten uns auf den Weg durch die schlafende Stadt.
Petrus fuhr fort:
«Unser Ritter, der in seinem Stolz gekränkt war, beschloß genau das zu tun, was Männer gemeinhin tun, wenn sie abgewiesen werden: Er begann seinen eigenen Krieg. Er legte vor sich selbst das Versprechen ab, eine so bedeutende Heldentat zu vollbringen, daß die Dame seinen Namen nie wieder vergessen würde. Monatelang suchte er ein hehres Ideal, dem er die abgewiesene Liebe weihen konnte. Bis er eines Nachts von den Verbrechen und Kämpfen auf dem Jakobsweg hörte. Da hatte er eine Idee.
Er versammelte zehn Freunde um sich, nahm seinen Wohnsitz in der Stadt, durch die wir gerade gehen, und ließ unter den Jakobspilgern verbreiten, er sei bereit, innerhalb von dreißig Tagen dreihundert Lanzen zu brechen, um zu beweisen, daß er der stärkste und mutigste aller Ritter des Jakobsweges sei. Er und seine Freunde kampierten dort mit ihren Fahnen, Standarten, Pagen und Dienern und warteten auf die Herausforderer.«
Ich stellte mir vor, was für ein Fest das gewesen sein mochte.