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Ich gab zu bedenken, daß ich mich von den Sorgen, auf die er angespielt hatte, noch nicht befreit hätte.

«Das ist unwichtig. Die Übung wird dich ganz allmählich von den Bürden befreien, die du dir in deinem Leben selbst aufgeladen hast.«

Und dann lehrte mich Petrus die erste Übung der R.A.M.: Das Samenkorn.

«Und nun mach die Übung zum ersten Mal«, sagte er.

Ich steckte meinen Kopf zwischen die Knie, atmete tief und begann mich zu entspannen. Mein Körper gehorchte widerspruchslos, vielleicht weil wir den ganzen Tag über gewandert waren und ich nun erschöpft war. Ich lauschte dem Klang der Erde, einem dumpfen, heiseren Klang, und wurde ganz allmählich zu einem Samenkorn. Ich dachte nicht mehr.

Alles war dunkel, und ich schlief tief unten in der Erde. Plötzlich bewegte sich etwas. Ein Teil von mir, ein winziger Teil von mir, wollte mich wecken, mir sagen, daß ich von dort unten herauskommen solle, da es >dort oben< etwas anderes gab.

Ich wollte weiterschlafen, doch dieser Teil ließ nicht locker. Er begann meine Finger zu bewegen, und meine Finger bewegten dann meine Arme. Doch es waren weder die Finger noch die Arme, es war ein Samenkorn, das darum kämpfte, die Erde zu durchbrechen und dort mach oben< zu kommen. Ich spürte, wie mein Körper begann, der Bewegung meiner Arme zu folgen.

Jede Sekunde war wie eine Ewigkeit, doch das Samenkorn wollte wachsen, wollte wissen, was >dort oben< war. Unter großen Schwierigkeiten richteten sich zuerst mein Kopf und dann mein Körper auf. Alles vollzog sich für mich viel zu langsam, und ich mußte gegen die Kraft ankämpfen, die mich ins Innere der Erde zog, wo ich bislang ruhig in nicht endendem Schlaf gelegen hatte. Doch es gelang mir, und ich bezwang diese Kraft und erhob mich. Ich hatte die Erde durchbrochen und war von diesem >dort oben< umgeben.

Es war die Natur. Ich spürte die Wärme der Sonne, hörte das Summen der Insekten, das Murmeln des Baches in der Ferne.

Langsam stand ich auf, hielt die Augen geschlossen DAS EXERZITIUM VOM SAMENKORN

Knie nieder. Dann setze dich auf deine Fersen und beuge dich so weit nach vorn, bis deine Stirn die Knie berührt. Strecke die Arme zurück. Du befindest dich jetzt in Fötushaltung. Schließe die Augen. Nun entspanne dich vollkommen. Atme ruhig und tief. Ganz allmählich glaubst du, ein winziges, wohlig von der Erde umschlossenes Samenkorn zu sein. Du bist von Wärme und Wohlgefühl umgeben. Du schläfst ruhig. Plötzlich erzittert ein Finger. Das Korn will nicht mehr Samenkorn sein, es will wachsen. Du beginnst ganz langsam die Arme zu bewegen, dann richtet sich dein Körper auf, bis du wieder auf den Fersen sitzt. Nun erhebst du dich etwas und verschiebst dein Gewicht ganz langsam nach vorn, bis du wieder kniest. Während du das tust, stell dir vor, du wärst ein Samenkorn, das keimt und allmählich die Erde durchbricht. Jetzt ist der Augenblick gekommen, die Erde ganz zu durchstoßen. Du erhebst dich langsam, setzt erst einen Fuß, dann den anderen auf, versuchst das Gleichgewicht zu halten, wie ein Schößling, der um seinen Raum kämpft. Wenn du ganz aufgerichtet stehst, stelle dir das Feld um dich herum vor, die Sonne, das Wasser, den Wind und die Vögeclass="underline" Du bist ein Samenkorn, das wächst. Du hebst langsam die Arme zum Himmel. Dann streckst du dich immer weiter, als wolltest du die Sonne packen, die über dir leuchtet und dir Kraft spendet und dich anzieht. Dein Körper spannt sich an, die Muskeln kontrahieren, und dabei fühlst du, daß du immer größer wirst, bis du schließlich riesig bist. Die Anspannung wird immer stärker, wird schmerzhaft, unerträglich.

Wenn du es nicht mehr aushältst, stoße einen Schrei aus und öffne die Augen. und glaubte das Gleichgewicht zu verlieren und zur Erde zurückzukehren. Dennoch wuchs ich immer weiter. Meine Arme lösten sich vom Körper, der sich immer weiter streckte. Und ich wurde wiedergeboren, wünschte mir, daß diese unendlich große, leuchtende Sonne mich durchflutete. Ich reckte meine Arme, so weit ich konnte. Alle meine Muskeln begannen zu schmerzen, und mir war so, als ragte ich tausend Meter hoch hinauf, als könnte ich die Berge umarmen. Mein Körper weitete und weitete sich, bis die Schmerzen in den Muskeln so intensiv geworden waren, daß ich es nicht mehr aushalten konnte. Da stieß ich einen Schrei aus.

Ich öffnete die Augen und sah Petrus, der vor mir stand, eine Zigarette rauchte und mich anlächelte. Das Tageslicht war noch nicht ganz verschwunden, doch zu meiner Überraschung gab es weniger Sonne, als ich vermutet hatte. Ich fragte ihn, ob er wollte, daß ich ihm meine Gefühle beschriebe. Er verneinte es.

«Das sind sehr persönliche Dinge, die solltest du für dich behalten. Wie soll ich mir ein Urteil über sie erlauben. Sie gehören dir ganz allein.«

Dann meinte er, wir sollten hier schlafen. Wir machten ein kleines Feuer, tranken den Rest Wein und aßen das Brot, das ich mit der Leberpastete bestochen hatte, die ich, noch bevor ich nach Saint-Jean gekommen war, gekauft hatte. Petrus war zum Bach gegangen, der in der Nähe floß, und hatte dort Fische gefangen, die er dann auf dem Feuer grillte.

Anschließend streckten wir uns jeder in seinem Schlafsack aus.

Diese erste Nacht auf dem Jakobsweg gehört zu den Dingen in meinem Leben, die ich nie wieder vergessen werde. Es war kalt, obwohl Sommer war. Ich hatte noch den Geschmack des Weins, den Petrus mitgebracht hatte, im Mund. Ich blickte in den Himmel und die Milchstraße, die den unendlichen Weg zeigte, den wir noch gehen mußten. Unter anderen Umständen hätte mir diese unendliche Weite Angst eingeflößt, und ich hätte gefürchtet, es nicht zu schaffen, dem nicht gewachsen zu sein.

Doch heute war ich ein Samenkorn und war neugeboren. Ich hatte herausgefunden, daß trotz des Behagens in der Erde und des Schlafes, den ich dort schlief, das Leben >dort oben< viel schöner war. Ich konnte, sooft ich wollte, wiedergeboren werden, bis meine Arme so groß waren, daß sie die ganze Welt umarmen konnten.

Der Schöpfer und die Kreatur

Sechs Tage lang waren wir durch die Pyrenäen gewandert, die Berge hinauf- und hinabgestiegen. Jedesmal, wenn die letzten Sonnenstrahlen die höchsten Gipfel gerade noch beschienen, ließ mich Petrus das Exerzitium vom Samenkorn machen. Am dritten Tag zeigte uns ein Wegweiser aus Beton, daß wir uns auf spanischem Boden befanden. Petrus hatte nach und nach einiges aus seinem Privatleben preisgegeben. Ich fand heraus, daß er Italiener war und von Beruf Industriedesigner. Ich fragte ihn, ob all das, was er aufgegeben hätte, um einen Pilger zu führen, der auf der Suche nach einem Schwert war, ihn nicht in Gedanken weiter beschäftigte.

«Ich möchte, daß dir eines klar ist«, antwortete er.»Ich führe dich nicht zu deinem Schwert. Es zu finden ist ganz allein deine Sache. Ich bin hier, um dich auf dem Jakobsweg zu führen und dich die Praktiken der R.A.M. zu lehren. Wie du sie dann bei der Suche nach deinem Schwert anwendest, ist dir überlassen.«

«Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

«Eine Reise ist immer ein Akt der Wiedergeburt. Du wirst vor vollkommen neue Situationen gestellt, der Tag vergeht viel langsamer, und zumeist verstehst du die Sprache nicht, die die Menschen sprechen. Genau wie ein Kind, das aus dem Mutterleib kommt. Unter solchen Umständen mißt du dem, was dich umgibt, eine viel größere Bedeutung bei, da dein Überleben davon abhängt. Du bist Menschen gegenüber offener, weil sie dir vielleicht in schwierigen Lagen helfen können. Und du nimmst das kleinste Geschenk der Götter mit so großer Freude auf, als handele es sich um etwas, was man sein ganzes Leben lang nie wieder vergißt.

Zugleich wirst du, da alles neu ist, vor allem der Schönheit aller Dinge gewahr und bist glücklich darüber zu leben. Daher ist die Wallfahrt seit jeher eine der objektivsten Formen, um zur Erleuchtung zu gelangen. Um seine Sünden abzulegen, muß man immer weitergehen, sich neuen Situationen stellen und wird dafür die Tausenden von Segnungen empfangen, die das Leben dem großzügig gewährt, der sie von ihm erbittet.