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Glaubst du wirklich, daß ich mir wegen eines halben Dutzends von Projekten Sorgen mache, die ich nicht umgesetzt habe, weil ich jetzt hier mit dir zusammen bin?«

Petrus sah um sich, und ich folgte seinen Blicken. Eine Ziegenherde zog über den Abhang eines Berges. Eine Ziege, die waghalsigste, stand auf einem hohen Felsvorsprung. Ich fragte mich, wie sie dort hingekommen war und wie sie von dort wieder weggelangen könnte. Doch noch als ich mir diese Frage stellte, sprang die Ziege, für mich unsichtbare Punkte zu Hilfe nehmend, zu ihren Gefährten zurück. Alles ringsum strahlte eine kraftvolle Ruhe aus, den Frieden einer Welt, die noch viel wachsen und erfinden konnte und wußte, daß es voranzuschreiten galt, immer voranzuschreiten. Auch wenn ein heftiges Erdbeben oder ein mörderischer Sturm manchmal in mir das Gefühl erweckten, die Natur sei grausam, so habe ich doch begriffen, daß sie nur Wechselfälle des Weges sind. Auch die Natur befindet sich auf einer Reise, auf der Suc he nach der Erleuchtung.

«Ich bin sehr glücklich, hier zu sein«, sagte Petrus.»Denn die Arbeit, die ich nicht gemacht habe, zählt nicht, und die Arbeiten, die ich anschließend machen werde, werden um so besser gelingen.«

Nachdem ich das Werk von Carlos Castaneda gelesen hatte, wünschte ich mir, einmal dem alten indianischen Medizinmann Don Juan zu begegnen. Als ich Petrus sah, wie er die Berge betrachtete, hatte ich das Gefühl, mit jemandem zusammen zu sein, der sein Bruder hätte sein können.

Am Nachmittag des siebten Tages hatten wir, nachdem wir durch einen Tannenwald gewandert waren, den höchsten Punkt einer Anhöhe erreicht. Dort hatte Karl der Große das erste Mal auf spanischem Boden gebetet. Die Inschrift auf einem alten Denkmal bat den Reisenden, zur Erinnerung an dieses Ereignis ein Salve Regina zu beten, was wir beide taten. Dann bat mich Petrus, die Übung des Samenkorns ein letztes Mal durchzuführen.

Es ging ein starker Wind, und es war sehr kalt. Ich wandte ein, daß es noch zu früh sei — es war höc hstens drei Uhr — , doch er bat mich, darüber nicht zu diskutieren und es sofort zu tun.

Ich kniete mich auf den Boden und begann die Übung. Alles verlief normal bis zu dem Augenblick, als ich die Arme ausstreckte und anfing, mir die Sonne vorzustellen. Als ich an diesem Punkt angelangt war, leuchtete eine riesige Sonne vor mir, und ich spürte, daß ich in tiefe Ekstase fiel. Meine Erinnerung daran, daß ich ein Mensch war, verlosch langsam, und ich machte jetzt keine Übung mehr, sondern war ein Baum geworden. Ich war glücklich. Die Sonne leuchtete und drehte sich um sich selbst — das war vorher noch nie geschehen. Ich stand dort mit ausgestreckten Ästen, der Wind schüttelte mein Laub, und ich wäre am liebsten immer so stehen geblieben. Bis mich etwas berührte und alles für den Bruchteil einer Sekunde dunkel wurde.

Ich öffnete sofort die Augen. Petrus hatte mir eine Ohrfeige gegeben und hielt mich an den Schultern gepackt.

«Vergiß dein Ziel nicht!«rief er wütend aus.»Vergiß nicht, daß du noch viel zu lernen hast, bevor du dein Schwert findest!«

Ich setzte mich auf die Erde, zitterte frierend im eisigen Wind.

«Passiert das immer?«fragte ich.

«Fast immer. Vor allem bei Leuten wie dir, die von den Details fasziniert sind und das Ziel ihrer Suche aus den Augen verlieren.«

Petrus hatte einen Pullover aus seinem Rucksack geholt und ihn sich übergezogen. Ich zog mir ein weiteres T-Shirt über mein I LOVE NY. Ich hätte nie gedacht, daß es in dem Sommer, den die Zeitungen als den >heißesten des Jahrzehnts< bezeichneten, so kalt sein könnte. Die beiden Schichten hielten den Wind etwas ab, doch ich bat Petrus, schneller zu gehen, damit mir warm wurde. Der Weg führte nun über einen sehr leicht zu erklimmenden Abhang. Ich dachte, mein Frösteln käme womöglich von unserer kargen Ernährung, denn wir aßen nur Fische und die Früchte des Waldes. Doch Petrus erklärte mir, daß uns kalt sei, weil wir den höchsten Punkt unserer Wanderung durch die Berge erreicht hätten.

Wir waren keine fünfhundert Meter gegangen, als sich die Landschaft hinter einer Wegbiegung vollkommen veränderte.

Vor uns breitete sich eine endlose Ebene mit sanften Erhebungen aus. Links, nicht weiter als zweihundert Meter von uns entfernt, erwartete uns ein kleines Dorf mit seinen rauchenden Schornsteinen. Ich wollte meine Schritte

beschleunigen, doch Petrus hielt mich zurück.

«Ich glaube, jetzt ist der geeignetste Augenblick, um dich die zweite Praktik der R.A.M. zu lehren«, sagte er, indem er den Boden prüfte und mir ein Zeichen gab, es ihm gleichzutun.

Ich setzte mich widerwillig. Der Anblick des kleinen Dorfes und seiner rauchenden Schornsteine hatte mich verwirrt. Plötzlich wurde mir bewußt, daß wir uns, ohne einer Menschenseele zu begegnen, seit einer Woche in der freien Natur aufgehalten, unter freiem Himmel geschlafen hatten und immer den ganzen Tag über gewandert waren. Mir waren die Zigaretten ausgegangen, und ich mußte die gräßlichen Selbstgedrehten von Petrus rauchen. Ohne Federbett schlafen und ungewürzten Fisch essen, so etwas hatte ich wunderbar gefunden, als ich zwanzig war, doch auf dem Jakobsweg verlangte es mir eine gewaltige Portion Überwindung ab. Ich wartete ungeduldig darauf, daß Petrus seine Zigarette gerollt und schweigend aufgeraucht hatte, während ich von der Wärme eines Glases Wein in einer Bar träumte, die ich in weniger als fünf Minuten Fußmarsch vor uns liegen sah. In seinen molligen Pullover gemummelt, saß Petrus ruhig da und blickte geistesabwesend auf die unendliche Ebene.

«Wie hat dir unsere Wanderung durch die Pyrenäen gefallen?«

fragte er kurz darauf.»Sie war sehr schön«, antwortete ich, ohne weiter darüber reden zu wollen.

«Sie muß wirklich sehr schön gewesen sein, denn wir haben sechs Tage für eine Strecke gebraucht, die man an einem Tag bewältigen kann.«

Ich konnte es nicht glauben. Er nahm die Karte und zeigte mir die Entfernung: siebzehn Kilometer. Auch wenn man wegen der Auf- und Abstiege nur langsam wanderte, war dieser Weg in sechs Stunden zu schaffen.

«Du bist so versessen darauf, dein Schwert zu erreichen, daß du das Wichtigste vergessen hast: Man muß zu ihm gehen.

Indem du auf Santiago gestarrt hast, das du von hier aus nicht sehen kannst, hast du nicht bemerkt, daß wir an einigen Stellen auf verschiedenen Wegen vier- oder fünfmal hintereinander vorbeigekommen sind.«

Jetzt, da Petrus es sagte, erinnerte ich mich daran, daß der Mont Itchasheguy, der höchste der Region, manchmal rechts und manchmal links von mir gelegen hatte. Mir war das damals durchaus aufgefallen, doch ich hatte nicht den einzig möglichen Schluß daraus gezogen, nämlich daß wir im Kreis gelaufen waren.

«Ich bin einfach verschiedene Wege gegangen und habe dabei die Schmugglerpfade im Wald genutzt. Aber du hättest es trotzdem merken müssen. Schuld daran ist, daß das Gehen an sich für dich unwichtig war. Für dich zählte nur dein Wunsch anzukommen.«

«Und wenn ich es gemerkt hätte?«

«Dann hatten wir auch sieben Tage gebraucht, denn die Praktiken der R.A.M. wollen es so. Doch du hättest mehr von den Pyrenäen gehabt.«

Ich war dermaßen überrascht, daß ich die Kälte und das Dorf vergaß.

«Wenn man auf ein Ziel zugeht«, fuhr Petrus fort,»ist es äußerst wichtig, auf den Weg zu achten. Denn der Weg lehrt uns am besten, ans Ziel zu gelangen, und er bereichert uns, während wir ihn zurücklegen. Man könnte dies mit dem sexuellen Akt vergleichen. Entscheidend für die Intensität des Orgasmus ist das Vorspiel. Das weiß inzwischen jedes Kind.

Das eilt auch, wenn man im Leben ein Ziel verfolgt. Der gute oder schlechte Ausgang hängt vom Weg ab, den wir einschlagen, um es zu erreichen, und von der Art, wie wir diesen Weg gehen. Daher ist die Zweite Praktik der R.A.M. so wichtig: Sie besteht darin, aus dem, was wir gewohnt sind, tagtäglich die Geheimnisse zu schöpfen, die uns die Routine zu sehen hindert.«