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Maggie Furey

Aurian

1

Die Lady vom See

»Hallo, kleines Mädchen!«

Aurian zuckte zusammen; der blaue Feuerball fiel ihr aus den Händen und rollte auf den trockenen Waldboden. Hastig trat sie auf die schwelenden Blätter zu ihren Füßen, denn in ihrer Panik hatte sie den Zauber zum Löschen des Feuers vergessen. Ihre Mutter hatte ihr verboten, allein hierherzukommen, und jetzt war es zu spät, um sich noch vor dem Fremden zu verstecken. Aurian machte Anstalten, davonzulaufen, aber der Eindringling auf der Lichtung sah so merkwürdig aus, daß sie sich vor lauter Staunen nicht von der Stelle rühren konnte.

Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Mann gesehen. Er war groß und breit und unter seinem schweren Umhang ganz in braunes Leder gehüllt. An seiner Seite trug er ein gewaltiges Schwert, und das braune Haar auf seinem Gesicht sah ausgesprochen merkwürdig aus – es erinnerte sie, ebenso wie seine braunen Augen, an die Tiere, die ihre Freunde waren. Er kam mit ausgestreckter Hand einen Schritt auf sie zu, und Aurian trat hastig von der hoch über ihr aufragenden Gestalt zurück, während sich zwischen ihren Fingern ein neuer Feuerball formte. Der Mann sah sie nachdenklich an, setzte sich dann auf den Boden und schlang sich die Hände um die Knie. Nun, da er fast auf gleicher Höhe mit ihr war, sah er weit weniger bedrohlich aus, und Aurian fühlte sich ein wenig selbstsicherer. Immerhin war dies das Land ihrer Mutter. »Wer bist du?« fragte sie.

»Ich bin Forral – Schwertkämpfer und Wanderer. Zu Euren Diensten, kleine Lady.« Mit ernster Miene neigte er den Kopf zu einer Verbeugung, soweit er das im Sitzen vermochte.

»Ja, aber wer bist du?« Aurian, die immer noch einen sicheren Abstand zu ihm bewahrte, ließ nicht locker. »Was willst du hier? Weißt du, du solltest eigentlich gar nicht hier sein. Die Tiere hätten dich fernhalten sollen.«

Forral lächelte. »Sie haben mich nicht weiter gestört. Ich tue den Tieren nichts – und sie tun mir nichts. Das ist eine gute Art zu leben.«

Aurian merkte, daß sie sich trotz der Warnungen ihrer Mutter für den Mann erwärmte. Es war wirklich eine gute Art zu leben, und sie mochte sein Lächeln. Es schien ihr nur fair zu sein, ihn vor dem zu warnen, was seine Mutter ihm antun würde, falls sie ihn hier auf ihrem Land entdeckte. »Weißt du …«, hob sie an, aber er hatte bereits zu sprechen begonnen.

»Kannst du mich vielleicht zur Lady vom See führen?«

»Zu wem?«

Forral machte eine vage Bewegung mit der Hand. »Du weißt schon – die Magusch. Die Lady Eilin. Wenn ich mich nicht irre, mußt du die kleine Aurian sein, ihre Tochter. Du bist Geraint wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Aurian stand mit offenem Mund da. »Du hast meinen Vater gekannt?«

Ein Schatten der Traurigkeit legte sich über Forrals Gesicht. »Ja, das habe ich«, sagte er weich. »Deinen Vater und auch deine Mutter. Geraint hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Als er mich fand, war ich ein Waisenkind, etwa so alt wie du jetzt. Er brachte mich in die Schwertkämpferschule der Garnison von Nexis und war mir seit damals ein guter Freund.« Er seufzte. »Als dein Vater starb, war ich in den Ländern jenseits des Meeres, um zu kämpfen. Die Nachricht von – dem Unfall hat mich dort nicht erreicht. Ich bin gerade erst zurückgekehrt, und als ich hörte, daß …« Einen Augenblick lang fiel es ihm schwer, weiterzusprechen. »Nun, da bin ich sofort hierhergekommen. Und jetzt möchte ich deiner Mutter meine Dienste anbieten.«

»Sie wird dich nicht wollen.« Aurian hatte die Worte bereits ausgesprochen, als ihr klar wurde, wie taktlos sie klingen mußten. Es schien abscheulich, so etwas zu sagen, nachdem er eine so weite Reise gemacht hatte. Und sie hatte ihn bereits gern. In den ganzen neun Jahren ihres Lebens hatte Aurian, soweit sie sich erinnern konnte, keine andere menschliche Gesellschaft genossen als die ihrer Mutter, und Eilin hatte immer nur wenig Zeit übrig gehabt für ihre Tochter. Sie war zu beschäftigt mit ihrer großen Aufgabe. Aurian führte ein einsames Leben, in dem ihr nur die Tiere Gesellschaft leisteten. Verzweifelt suchte sie nach irgendeiner Möglichkeit, ihm zu erklären, wie die Dinge standen, ohne die Gefühle ihres neuen Freundes zu verletzen. »Weißt du«, sagte sie, »meine Mutter hat nie Besuch. Sie ist so beschäftigt, daß selbst ich sie kaum zu Gesicht bekomme.«

Forral musterte sie eingehend. Hätte Aurian eine normale Erziehung genossen, hätte das zerrissene graue Hemd, das sie trug, das wirre Durcheinander ihrer roten Locken, ihr verschmiertes Gesicht und ihre schmutzigen, nackten Knie sie vielleicht in Verlegenheit gebracht. Wie die Dinge lagen, erwiderte sie seinen Blick jedoch ganz unbefangen. »Wer kümmert sich denn dann um dich?« fragte er schließlich.

Aurian zuckte die Achseln. »Niemand.«

Der große Mann runzelte die Stirn. »Dann ist es aber höchste Zeit, daß endlich jemand damit anfängt. Und wo wir gerade davon sprechen – darfst du das?« Er zeigte auf den vergessenen Feuerball, der immer noch über der Innenfläche ihrer Hand tanzte.

Aurian brachte ihn hastig zum Verlöschen und versteckte ihre Hände hinter dem Rücken, wobei sie sich wünschte, daß sie ihren schuldbewußten Gesichtsausdruck ebenso einfach hätte verbergen können.

»Nun ja – eigentlich nicht«, gestand sie, »aber es war ein Notfall.« Sie biß sich auf die Lippe. »Du wirst mich doch nicht verraten, oder?«

Forral schien darüber nachdenken zu müssen. »Na gut. Ich werde nichts verraten – diesmal nicht«, fügte er mit ernster Miene hinzu. »Aber du darfst es nicht wieder tun, hast du mich verstanden? Es ist sehr gefährlich. Und glaub nicht, ich hätte nicht gemerkt, was du gerade vorhattest, als ich dazukam. Es war überhaupt kein Notfall, hm?« Aurian spürte, wie ihr Gesicht krebsrot anlief, und Forral grinste. »Na komm, junge Lady, laß uns zu deiner Mutter gehen.«

»Sie wird nicht besonders erfreut sein«, warnte Aurian ihn, aber bevor sie es noch ganz ausgesprochen hatte, wußte sie schon, daß er ihr nicht glauben würde.

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg über den baumbestandenen Hügel; Forral führte sein müdes Pferd, und das magere, hoch aufgeschossene Kind stieg auf sein ungesatteltes, zotteliges braunes Pony. Kühles, herbstliches Sonnenlicht fiel durch die kahlen Äste und vergoldete das Laub, das unter ihren Füßen knisterte. Auf dem Gipfel der Anhöhe war der Wald plötzlich zu Ende. Das Kind hielt mit verschlossener, grimmiger Miene sein Pony an.

»Die Götter mögen uns beistehen!« Forral betrachtete die Verwüstung auf der anderen Seite des Hügels; er traute seinen Augen nicht. Die Nachricht von Geraints Unfall war ein Schock für ihn gewesen, aber er hatte nie und nimmer erwartet, eine Zerstörung dieses Ausmaßes vorzufinden. Jenseits des Höhenzuges erstreckte sich, soweit das Auge reichte, ein riesiger, unfruchtbarer Krater. Dieses Zeugnis des gewaltsamen Endes, das sein Freund gefunden hatte, ansehen zu müssen, war beinahe mehr, als der Schwertkämpfer ertragen konnte. Geraint, der brillanteste und impulsivste der Magusch, der aussichtsreichste Kandidat, als nächster das Amt des Erzmagusch zu bekleiden. Arrogant und stur wie alle Angehörigen seines Volkes. Hier unten war er zu Tode gekommen, der große, rothaarige Geraint mit dem explosiven Temperament, dem überschwenglichen Lachen, der grenzenlosen Lebensfreude und der Herzensgüte, sich mit einem zerlumpten, unfertigen Jungen anzufreunden, der es gewagt hatte, zu träumen.

Auch Geraint hatte zu träumen gewagt, dachte Forral traurig. Vor acht Jahren hatte er versucht, mit Hilfe der alten, nur halb verstandenen Magie des untergegangenen Drachenvolkes so große Mengen magischer Energie in sich aufzunehmen, daß er sich damit direkt in eine andere Welt versetzen konnte.

Dieser Versuch hatte verheerende Ergebnisse gezeitigt. Es hieß, daß Geraint der Zerstörung der Welt gefährlich nahe gekommen war, und es stand bereits fest, daß noch viele Generationen von Magusch und Sterblichen seinen Namen gleichermaßen verfluchen würden.