Die Leviathane hatten sich in ihrer Verzweiflung gerettet, indem sie eine kleine, grimmige Rasse von Kriegern gezüchtet hatten – die Orca –, die der ständigen Bedrohung durch die Merfolk ein Ende machen und den Frieden der Meere wiederherstellen sollte. Aber so furchteinflößend sie auch sein mochten, auch die Orca hatten das sanfte Herz der Leviathane und verabscheuten das Morden, und das Blut ihrer Opfer lastete unerträglich auf ihren Gewissen. Deshalb wurde ihrer Rasse, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, die Gnade des ewigen Schlafs gewährt; sie wurden eingeschlossen in einer tiefen unterseeischen Höhle und können jederzeit wieder zum Leben erweckt werden, wenn sich das jemals als nötig erweisen sollte. Nachdem dies vollbracht war, beschloß die Rasse der Leviathane, nie mehr Umgang mit den aggressiven und zerstörerischen Völkern des Landes zu pflegen. Sie kapselten sich von allem Kontakt mit der äußeren Welt ab und kehrten zu ihren Meditationen und Spielen zurück. Die Völker auf der Oberfläche der zerstörten Erde hatten bald vergessen, daß die Leviathane etwas anderes waren als wilde Tiere.
Als Buße dafür, daß sie die Geheimnisse der Feuermagie offenbart hatten, mit der solch gewaltiges Unheil angerichtet worden war, kapselten sich ebenfalls die noch übriggebliebenen Drachen ab, zogen sich in die Wüsteneien zurück und leisteten den Eid, die Magie für alle Zeiten aufzugeben. Sie versuchten, Begegnungen mit anderen als ihrer Art zu vermeiden, aber sie wurden oft von Kriegern aufgestört, die allerdings über mehr Mut als Verstand verfügten.
Zu jenen Zeiten brachen viele der Drachen ihren Schwur und bedienten sich der Gewalten der Feuermagie, um sich selbst in andere Welten zu versetzen. Und manchmal kam es vor, daß ein neugieriger Drache im Verlangen nach Kontakt mit der Außenwelt einen Sterblichen – der reinen Herzens und sanftmütig sein mußte – als Gefährten entführte.
Die verbliebenen Himmelsleute, die ihrer magischen Kräfte beraubt waren, übergaben die Windharfe einer Wächterin, die jenseits der Welt existiert – der Cailleach oder Herrin der Nebel, die außerhalb der Zeit an den Gestaden des zeitlosen Sees wohnt. Dezimiert und ihrer Magie beraubt, entwickelten sie notgedrungen ihre kriegerischen Fähigkeiten weiter. Sie beschränkten sich auf ihren eigenen Lebensraum, den sie aber stets mit äußerstem Einsatz gegen alle Eindringlinge verteidigten, denn ihr Sturz in die Niederungen der Machtlosigkeit hatte. sie tief beschämt. Die übrige Welt lernte schnell, einen großen Bogen um sie zu machen. Und die Zauberer? Nun, bei ihnen war es etwas anderes. Als die Seuche um sich griff, sorgte der Oberste Zauberer für den schlimmsten Fall vor. Er befahl seinem Sohn, Avithan, der für seine Weisheit berühmt war, sechs Magusch seines Volkes mit besonderen Fähigkeiten auszuwählen – drei Männer und drei Frauen –, die ihre Rasse erhalten sollten, wenn sie alle verloren waren.
Avithan entschied sich für Iriana, deren Gebiet die wilden Tiere der Erde waren, für Thara, die sich auf alles verstand, was wächst, und für Melisanda, deren Fähigkeit zu heilen es ihr sehr schwermachte, ihr Volk in dieser schlimmen Zeit zu verlassen. Mit ihnen sollten drei Männer gehen – Chathak, der die Drachen liebte und Kenntnisse von deren Magie hatte, Yinze, ein Freund des Himmelsvolkes, und Ionor der Weise, Botschafter der Zauberer bei der Rasse der Leviathane.
Avithan begab sich zu der Cailleach und beschwor sie, diese sechs Auserwählten für hundert Jahre aus der Zeit zu nehmen. Sie war unter der Bedingung einverstanden, daß er selbst für immer die Zeitlichkeit verließ und ihr Seelengefährte würde, denn am Zeitlosen See war es einsam, und Avithan war wohl anzusehen und besaß dazu eine gute und weise Seele. Er willigte ein und verschwand aus der Welt, um in der Legende als Avithan, Vater der Götter, wieder zu erscheinen.
Denn als ein Jahrhundert vergangen war und die sechs Auserwählten zurückkehrten, fanden sie eine Welt vor, die sich bis zur Unkenntlichkeit verändert hatte. Die anderen Rassen der Magusch hatten sich in ihre selbstauferlegte Abgeschiedenheit begeben, und die Rasse der Zauberer war durch die Seuche und die Verheerung, die ihr gefolgt war, völlig ausgetilgt worden. So, wie es aussah, wurde die Welt von der niederen Rasse der Sterblichen beherrscht, die wie Ratten in den Ruinen des geschundenen Planeten haust.
Die sechs überwanden ihren Schrecken und ihren Schmerz und machten sich zügig an die Arbeit. Irianas und Tharas Aufgabe war es, die Tierwelt wiederherzustellen und die Erde wieder grün und fruchtbar zu machen. Melisanda heilte die von Krankheiten geplagten Sterblichen und deren Tiere. Die Männer unternahmen weite Reisen und sammelten die noch auffindbaren Kenntnisse der magischen Disziplinen des Feuers, der Luft und des Wassers, denn alle magische Macht lag jetzt in den Händen der Zauberer, die sich fortan als einzige noch Magusch nannten. Und untereinander machten sich die sechs daran, für den Erhalt ihrer Rasse zu sorgen – eine angenehme Aufgabe, aber auch eine, die mit sorgfältiger Planung durchgeführt werden mußte. Als Schutz gegen zukünftigen Mißbrauch ihrer magischen Kräfte legten sie den Maguschkodex nieder und hinterließen ihn ihren Nachfahren als ein unabänderliches Gesetz, das einzuhalten jeder Magusch bei seiner Seele schwören muß. Und sich in das Unausweichliche fügend – nämlich, daß schließlich für die verachteten Sterblichen das Zeitalter der Freiheit gekommen war –, machten sie sich daran, ihnen soviel beizubringen wie möglich, damit ihre Rasse an Weisheit und Verantwortlichkeit zunehmen konnte.
Tausend Jahre lang mühten sie sich ab und entschlossen sich dann, zu erschöpft für weitere Taten, zusammen aus dem Leben zu scheiden. Sie gingen als Götter und Gottheiten in die Legende ein – Iriana mit den Tieren, Thara von den Feldern und Melisanda mit den heilenden Händen; Chathak, Gott des Feuers, Yinze vom Himmel und Ionor der Weise. Aus ihm wurde für die südlichen Rassen der Schnitter der Seelen, weil er einen Teil des Vermächtnisses der Leviathane besaß und sie es waren, die den Kessel geschaffen hatten, der, so hieß es, über die Wiedergeburt der Seelen wachte. Avithan wurde zum Vater der Götter und Cailleach zu ihrer Mutter.
Aber was war aus den vier großen Artefakten der Macht geworden? Das Schwert war verborgen und wartete auf den Einen, für den es geschmiedet ward. Die Windharfe hatte die Zeitlichkeit verlassen. Der Stab der Erde war verloren, und man glaubte, daß der Kessel in der Verheerung untergegangen sei. Wer hätte gedacht, daß ein Bruchstück davon die Zeiten überdauerte, um in zukünftigen Zeitaltern noch einmal den Sand des Zufalls in das Räderwerk des Gleichgewichts zu streuen.
Aurian tauchte aus Ithalasas Erzählung wieder an die Oberfläche ihres Bewußtseins empor, benommen von dem, was sie gesehen und gehört hatte. Die Geschichte ihres Volkes war vor ihr ausgebreitet worden wie ein offenes Buch. Aber nach alledem schien ihr Ziel unerreichbarer zu sein als jemals zuvor. Miathan hatte eine der Waffen, und zwei der anderen waren offenbar jedem Zugriff entrückt. Selbst die vierte, der Stab der Erde, war seit ungezählten Zeitaltern verloren. Nur die Gegenwart des Leviathan hielt die Magusch von einem gewaltigen Fluch ab. Statt dessen begnügte sie sich mit einem verzagten Seufzer.
»Ach, Vater. Du hättest dir keine Sorgen zu machen brauchen, was ich mit den Waffen anstellen könnte. Ich sehe nicht die geringste Hoffnung, in ihren Besitz zu gelangen. Ich muß wohl ohne sie gegen den Erzmagusch ins Feld ziehen – aber die Götter allein wissen, wie.«
»Verzweifle nicht, Kleine«, beruhigte Ithalasa sie. »Du weißt jetzt viel mehr über die Natur unserer Welt und über die Mächte und die Völker, die sie beherbergt, als dein Feind. Vielleicht wirst du Verbündete finden, mit denen du nicht gerechnet hast. Und da du jetzt das Schicksal der Waffen kennst, kann es gut sein, daß sie sich schließlich ganz von selbst bei dir einfinden.«