Wohl kaum, dachte Aurian unwillig, verbarg diesen Gedanken aber sorgfältig vor Ithalasa. Er hatte sein Bestes getan, und sie war ihm dankbar. Seine nächsten Worte steigerten ihre Dankbarkeit noch. »Ich kann noch eines tun, um dir zu helfen, Tochter. Weder ich noch meine Leute können für dich kämpfen. Das liegt jenseits unserer Natur. Aber ich werde dir eine Beschwörungsformel überlassen – die alte Beschwörung, um die Orca aus ihrer Ruhe zu erwecken. Aber ich bitte dich um ihres Leidens willen, diese Beschwörung nicht zu gebrauchen, wenn du nicht in äußerster Not bist. Doch weiß ich auch, daß du das nicht tun würdest.« Und wieder überschwemmten seine Gedanken sie voller Liebe und Anerkennung, und mit ihnen zusammen übertrug er ihr die Beschwörungsformel – den seit ewigen Zeiten nicht mehr benutzten Ruf, um die Krieger der Rasse der Leviathane aus ihrem Schlaf zu wecken.
»Ithalasa, wie kann ich dir jemals danken?« sagte Aurian. Sie war geradezu überwältigt von Dankbarkeit.
»Verhüte eine neue Verheerung, Tochter. Stell den Frieden der Welt wieder her, falls du es irgendwie vermagst.«
Die Nacht senkte sich über sie, und Aurian war wieder hungrig und sehr müde. Der Leviathan bestand darauf, daß sie aß und schlief, bevor sie zu ihren Gefährten zurückkehrte. Am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg nach Norden. Die Magusch saß auf dem breiten Rücken ihres Freundes und versuchte, ihre Angst und Ungeduld zu zügeln. Als sie den waldgesäumten Strand erreichten, wo sie Anvar und Sara zurückgelassen hatten, fanden sie niemanden vor.
20
Der Sklavenmeister
Die vertraute Art und Weise, in der sich der Boden hob und senkte, machte Anvar klar, daß er sich wieder einmal an Bord eines Schiffes befand. Er war mit einem groben Seil gefesselt, und sein schmerzender Kopf dröhnte im Takt eines hohlen, dumpfen Trommelschlages, der in unablässiger Eintönigkeit an sein Ohr drang. Einen Augenblick lang lag er ganz still da, seine Wange ruhte auf feuchten, splittrigen Planken, und er wagte es nicht, die Augen zu öffnen. Es war zum Ersticken heiß. Er konnte Teer und stinkende Menschenleiber riechen, Erbrochenes und Exkremente. Neben dem hämmernden Trommeln, das schmerzhaft durch seinen Schädel hallte, hörte er das Klirren von Ketten und gelegentlich das von Schmerzensschreien begleitete Knallen einer Peitsche.
Er öffnete die Augen. Er lag in einem langen, schmalen, von Fackeln erleuchteten Raum, der nach seiner Schätzung den größten Teil des Platzes unter Deck einnehmen mußte. Auf Bänken zu beiden Seiten des schmalen Ganges saßen angekettete Sklaven in Viererreihen, und jede Reihe hatte ein schweres Ruder zu bedienen. Eine massige Gestalt lief zwischen den Männern auf und ab – der Aufseher. Er schwenkte eine grausam aussehende Peitsche, während am anderen Ende des Ganges ein kahlköpfiger Riese mit einer Haut wie dunkel gefärbtes Leder auf eine schwere Trommel hämmerte und den Ruderern das Tempo vorgab. Anvar hatte man in den überfüllten Raum im engen Vorschiff geworfen, wo kein Platz mehr für Ruderer war. Ein schneller Blick verriet ihm, daß von Sara keine Spur zu sehen war, und sein Magen verkrampfte sich vor Angst.
Nun kam jemand die Leiter herunter, die an dem hölzernen Schott hinter dem Behemoth mit der Trommel befestigt war. Wegen der plötzlich veränderten Haltung des Aufsehers, der Beschleunigung des Trommelschlags und des Reichtums der weiten Gewänder des Mannes glaubte Anvar, hier den Kapitän vor sich zu haben. Es war ein großer, ausgezehrt wirkender Mann mit einer Hakennase und einem dünnen, zotteligen Bart. Sein Kopf war vollkommen kahl geschoren, bis auf einen geflochtenen Pferdeschwanz auf dem Hinterkopf, und seine Haut glänzte in dem dämmerigen, roten Fackellicht wie poliertes Holz. Die Stimme, mit der er den Trommler ansprach, war tief und kehlig. »Schlag schneller, du! Sieh zu, daß diese Faulpelze sich bewegen, sonst bist du, eh’ du dich versiehst, einer von ihnen!«
Anvar war maßlos erstaunt. Der Mann sprach eine Sprache, die ihm vollkommen fremd war, und doch konnte er jedes Wort verstehen! Die Fähigkeit, jede fremde Sprache zu verstehen und zu sprechen, war ein Talent, das allen Maguschgeborenen eigen war … Anvar spürte einen warnenden Schmerz durch seinen Schädel rasen und mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzustöhnen. Um seine Gedanken von so gefährlichen Fragen abzulenken, konzentrierte er sich auf die Worte des Kapitäns.
»Und du mach endlich diesen Saustall sauber! Wie hältst du nur diesen Gestank aus? Ich werde nicht zulassen, daß wir wie ein Viehtransporter stinken, wenn wir in den Hafen einlaufen. Wir sind Königliche Korsaren, und wir haben einen Ruf zu verlieren.«
Der Aufseher stöhnte widerwillig. »Es ist schon schlimm genug, mit diesen Tieren hier zusammenleben zu müssen. Warum sollte ich auch noch für sie ausmisten?«
Die Faust des Kapitäns krachte auf die Kiefer seines Untergebenen, daß es in dem beengten Raum widerhallte. Der Aufseher taumelte zurück und fiel, ließ seine Peitsche fallen und schlug sich den Kopf an der Kante einer der Bänke auf. Ein schadenfrohes Murmeln lief durch die Reihen der angeketteten Sklaven.
»Weil sie, du blöder Sohn eines Esels, krank werden und sterben, wenn du zuläßt, daß sie sich in ihrem eigenen Mist suhlen«, sagte der Kapitän gereizt. »Sie verschleißen dann zu schnell, und wenn unser Gewinn niedriger ausfallen sollte, weil ich noch mehr Galeerensklaven ersetzen muß, dann werde ich mich an deinem Bonus schadlos halten.«
»Aber das ist nicht fair«, winselte der Aufseher.
»Betrachte es als eine besondere Gunst. Denn wenn deine Sorglosigkeit auf Kosten des Gewinns der Mannschaft ginge, würde man dir normalerweise die Kehle aufschlitzen.« Der Kapitän grinste bösartig. »Und jetzt an die Arbeit, Harag. Und du, Abuz, schlag endlich etwas schneller. Ich möchte rechtzeitig ankommen, um heute abend noch den Kuppler des Khisu treffen zu können. Er sollte sehr interessiert daran sein, die hellhaarige Frau für die Sammlung Seiner Majestät zu kaufen, und der Mann wird sicher einen guten Preis auf dem Markt bringen. Da der Khisu seinen Sommerpalast baut, ist der Preis für Sklaven im Augenblick unglaublich hoch. Der Sklavenmeister wird sogar einen Platz für einen illegalen Nordländer finden, und sein Gold wird unsere Taschen füllen. Daran kannst du bei der Arbeit denken. Vielleicht hilft es dir, dich ein bißchen zu beeilen.« Pfeifend ging er davon.
Nachdem Anvar bei Harags grober Säuberung des Sklavenbereichs mehrere Eimer voll Seewasser über den Kopf bekommen hatte, konnte er nicht länger so tun, als sei er ohne Bewußtsein. Als er würgte und spuckte, griff Harag brutal in sein Haar und zog seinen Kopf nach hinten. Er stieß einen langen, erstaunten Pfiff aus. »Bei meiner Seele, Abuz, das mußt du dir ansehen! Es stimmt wirklich – die Nordländer haben Augen von der Farbe des Himmels!« Mit einem Schaudern ließ er Anvars Kopf wieder fallen. »Igitt! Einfach unnatürlich nenne ich das. Ich bin froh, daß der Kapitän ihn verkauft – mit solchen Augen muß er einfach Unglück bringen.«
Abuz nickte, ohne auch nur einen Augenblick den Takt seines Trommelschlags zu vermindern. »Ich weiß, was du meinst. Ich hab’ mal einen gesehen, als ich noch jung war – einen gefangenen Spion, der hingerichtet werden sollte. Als sie ihm den Kopf abgeschlagen hatten, haben diese bleichen Augen direkt durch mich hindurchgestarrt. Ich hab’ hinterher noch eine ganze Ewigkeit lang Alpträume gehabt. Nordländer sind immer ein schlechtes Omen, glaube ich. Nur gut, daß wir fast zu Hause sind.«
»Ob wir ihm was zu essen geben sollen?« überlegte Harag. »Der Kapitän wird uns das Fell über die Ohren ziehen, wenn er in schlechter Verfassung ankommt.«
»Ach was. Er wird sich bloß übergeben, und du hast gerade erst sauber gemacht. Sie können ihn im Sklavenpferch füttern – auf ihre Kosten.«