»Nehmt ihn mit«, sagte er. Zu Anvars ungeheurer Erleichterung verschwand das Messer endlich. Die beiden Männer zogen ihn durch einen der schattigen Bogengänge und führten ihn einen langen, von Schritten widerhallenden Flur hinunter, der durch Lampen, die an der Kette von der Decke herunterhingen, beleuchtet wurde. Vereinzelte Sonnenstrahlen sickerten durch eine vergitterte Holztür am anderen Ende. Seine Wächter schlössen sie auf, und Anvar wurde auf einen staubigen, von offenen Werkstätten umsäumten Hof hinausgeschoben. In einer dieser Werkstätten saß ein Töpfer, der eine grobe Tonschüssel auf seinem Rad drehte. In der nächsten rührte eine verdreckte Frau in einem Kessel, der über einem offenen Feuer hing und einen widerlich riechenden Fraß enthielt. Sie hielt nur einmal kurz inne, um die unendlich vielen Fliegen zu verscheuchen, die ihr fettiges Gesicht umschwärmten. Vor einer anderen Zelle war ein Mann damit beschäftigt, lange, dünne Fellstreifen zu einer Peitsche zu flechten. Bei dem Gedanken an das, was diese Peitschen zu bedeuten hatten, wandte Anvar den Blick ab.
Anvar wurde gleich zur Werkstatt des Schmieds geführt. Ein magerer, schwitzender kleiner Junge bediente den Blasebalg und sorgte dafür, daß die Esse in weißer Hitze erglühte, während zwei dunkelhäutige Männer in Lederschürzen an Ketten und Handfesseln hämmerte. Den Schmied selbst konnte man nicht verwechseln. Er war ein vierschrötiger, schwarzer Mann, dessen Haut von der Hitze der Esse zu gerunzeltem Leder verschrumpelt war; seine Schultern waren doppelt so breit wie die von Anvar, und seine Muskeln standen wie grob behauene Felsblöcke hervor. Die beiden Wachen näherten sich ihm mit großem Respekt. Die Augen des Schmieds weiteten sich, als er Anvar sah. »Der Schnitter sei mit uns!« knurrte er angewidert. »Zahn verliert wohl den Verstand!« Er ging auf Anvar zu. In den Händen hielt er ein aufklappbares Metallhalsband, das wie ein Kinderarmreif aussah. Einer seiner Helfer folgte ihm mit einem funkelnden, weißglühenden Eisen.
Anvar kämpfte verzweifelt und zuckte zurück, als der Schmied ihm den breiten Reif um den Hals legte und die Enden geschlossen wurden, aber die Wachen hielten ihn in ihrem unerbittlichen Griff fest. Für den Schmied war diese heikle Aufgabe nichts Neues, und er tat Anvar dabei kaum weh. Trotzdem wimmerte Anvar vor Angst, als der Reif um seinen Hals heiß wurde, nachdem das glühende Eisen die beiden Enden miteinander verschmolzen hatte. Aber der kleine Junge, der seinen Blasebalg verlassen hatte, stand bereit, um ihn mit einem Krug kalten Wassers zu bespritzen, und die Hitze verschwand augenblicklich. Das Kind bedachte ihn mit einem frechen Grinsen, als es sich wieder seiner früheren Aufgabe zuwandte, und Anvar schämte sich für seine Feigheit. Einer der Wächter schnitt das grobe Seil durch, mit dem Anvars Hände gefesselt waren. Dann riß man ihm die Hände nach vorn und paßte ihm Metallfesseln an, die nur durch wenige Kettenglieder miteinander verbunden waren. Eine der Wachen holte eine weitere Kette hervor, die er in einen Ring am Halsband hängte. Dann nickte er dem wortkargen Schmied kurz dankend zu, bevor er mit einem scharfen Ruck an der Kette zog, um Anvar wegzuführen.
Sie behandelten ihn wie einen Hund! Anvar war wütend, gedemütigt und immer noch erschüttert von der schrecklichen Angst, die ihn überfallen hatte, als der Schmied das Halsband zusammengeschweißt hatte. Jetzt griff er mit seinen gefesselten Händen nach der Kette und zog so kräftig er konnte. Augenblicklich zog einer der Wächter eine kurze, kräftige Peitsche aus dem Gürtel, und die schwere Geißel sauste einmal, zweimal, dreimal auf Anvars Rücken und Schultern nieder. Er taumelte und schrie vor Schmerz, aber der Wächter zog ihn erbarmungslos weiter. Die harte Kante des eisernen Bandes schnitt sich in seinen Hals, und wieder sauste die Peitsche auf ihn herab, brannte einen feurigen Strom auf seinen Rücken, während er hinter dem Wächter hertaumelte. Der andere Handlanger folgte, und jedesmal, wenn Anvar stolperte oder seinen Schritt verlangsamte, ließ er die Peitsche auf ihn niedersausen.
Sie brachten Anvar zurück in das Gebäude und führten ihn dann eine steile Treppenflucht hinunter, die in die darunterliegenden Kellergewölbe führte. Dann warfen sie ihn in eine kahle, düstere Zelle, die noch mehrere andere Sklaven beherbergte, alle männlichen Geschlechts. Ihre Halsbänder waren mit kurzen Ketten an Ringen befestigt, die in Hüfthöhe in der Wand eingelassen waren, so daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als die ganze Zeit über auf dem Boden zu kauern. Die einzige Belüftung kam von einem Eisengitter hoch in der Wand, und die ganze Zelle stank nach menschlichen Exkrementen. Abflußrinnen führten zu einer Vertiefung in der Mitte des Fußbodens, einer widerlich stinkenden, offenen Senkgrube. Später sollte Anvar erfahren, daß die Zelle zweimal am Tag – ungeachtet der Sklaven, die darin angekettet saßen – grob ausgespült wurde, und das war auch schon alles, was für die Gesundheit der Sklaven getan wurde.
Die Wachen ketteten ihn an die Wand und verließen die Zelle, wobei sie die Tür sorgfältig hinter sich verriegelten. Keiner der anderen Sklaven reagierte auf Anvars Gegenwart. Die meisten von ihnen waren traurige Gestalten, verlaust, halb verhungert und von Wunden und Narben übersät. Einige weinten, andere dösten, und wieder andere starrten ausdruckslos und mit eingefallenen, leeren Augen ins Nichts.
Anvar versuchte, hinter sich zu greifen, um die Kette, mit der er an der Mauer befestigt war, zu fassen zu kriegen. Endlich gelang es ihm, obwohl das eiserne Band um seinen Hals ihn beinahe erdrosselte. Er zerrte an der Kette, bis seine Finger bluteten, aber sie war an einem Ende fest mit dem Halsband verbunden und am anderen mit dem Ring, der in die Wand eingelassen war. Endlich gab er den ungleichen Kampf auf und gab sich, das Gesicht in seinen blutenden Händen verborgen, der Verzweiflung hin. Es gab kein Entkommen. Was würde nur aus ihm werden? Was hatten sie mit Sara gemacht? Und vor allem, wo war diese treulose Magusch? In seinem Selbstmitleid stellte er sich vor, daß Aurian ihre Reise munter fortsetzte, frei und ohne einen Gedanken an die beiden Menschen, die sie so gefühllos ihrem Schicksal überlassen hatte.
Trotz seiner Wut auf sie gab der Gedanke an Aurian ihm wieder etwas Halt. Wenigstens trat sie den Dingen mit Mut und Entschlossenheit entgegen. Was würde sie sagen, wenn sie sein erbärmliches Verhalten hier sehen könnte? Nichts, dachte Anvar plötzlich. Sie würde ihn einfach von diesen Ketten befreien und sie beide von hier wegzaubern – und es wäre nicht das erste Mal, daß sie ihn gerettet hätte. Anvar dachte an Aurians frühere Freundlichkeiten, erinnerte sich an die Nähe, die sie für kurze Zeit an Bord des Schiffes geteilt hatten. Er rief sich ins Gedächtnis, daß sie ihn, indem sie ihn auf diese Reise mitgenommen hatte, vor den Todesgeistern gerettet hatte, und er erinnerte sich daran, warum sie ihn in Wirklichkeit verlassen hatte. Es war seine eigene Schuld. Er hatte sie vertrieben, und wo auch immer sie sein mochte, sie würde mit ihren eigenen Schwierigkeiten zu tun haben. Zumindest konnte er sich an ihrem Mut ein Beispiel nehmen. In diesem Augenblick schwor sich Anvar, daß er aushalten würde, was immer auch auf ihn zukommen mochte, so, wie er wußte, daß sie es aushalten würde. »Ich werde das hier überleben«, schwor er sich wild. »Und eines Tages werde ich Sara und Aurian wiedersehen.«
Sara wich so weit zurück, wie ihre gefesselten Gliedmaßen das zuließen, und kauerte sich in die Ecke der schmalen Koje, als die Kabinentür geöffnet wurde. Der Kapitän trat mit einem Bündel über dem Arm in den Raum, gefolgt von zwei muskulösen Seeleuten, die einen großen Wasserbottich trugen. Ein anderer Matrose folgte mit einem Teller voll Brot und Früchten und einer angelaufenen Tasse, die er auf den Tisch stellte. Der Kapitän wartete, bis seine Männer gegangen waren, und dann zog er mit einer weit ausholenden Bewegung einen juwelenbesetzten Dolch aus dem Ärmel seines weiten Gewandes. Sara stieß einen kleinen Schrei aus, aber er beugte sich lediglich vor und schnitt die Seile durch, die ihre Füße und Hände fesselten. Dann stand er über ihr und bedeutete ihr, sich zu entkleiden. Sara umklammerte ihr zerfetztes Gewand und schüttelte wild den Kopf. »Nein!« keuchte sie. »Bitte, nein.« Der Kapitän lachte und zeigte auf den Wasserbottich, auf das Bündel, das er aufs Bett geworfen hatte und auf das Essen auf dem Tisch. Dann drehte er sich mit einer ironischen Verbeugung um, verließ die Kabine und schloß hinter sich die Tür zu. Nach einem Augenblick erhob Sara sich von der Koje und rannte zur Tür, um daran zu rütteln, obwohl ihr die Sinnlosigkeit dessen, was sie tat, durchaus bewußt war. Die Tür war natürlich verschlossen. Sie wußte nicht, ob sie darüber froh oder traurig sein sollte. In gewisser Weise war es ein Trost, dieses stabile Stück Holz zwischen sich und den Männern zu wissen, die sie am Strand aufgegriffen hatten. Sie schauderte bei der Erinnerung daran. Nach Aurians Warnung bezüglich der Seeleute auf dem ersten Schiff war sie vor Angst halb von Sinnen gewesen, aber als der Kapitän sie zu Gesicht bekommen hatte, hatte er seiner Mannschaft in einem harten, fremdländischen Dialekt einige Befehle zugerufen, und sie hatten sie hier heruntergebracht. Abgesehen von einer kurzen Zeit, die sie geschlafen hatte – sie wußte nicht wie lange –, hatte sie hier gelegen, zitternd vor Angst und bei jedem Schritt draußen vor ihrer Tür von Entsetzen erfüllt.