»Tröste dich, Kleines«, sagte er zu ihr, als sie sich auf den Weg machten. »Wer kann die Wege des Schicksals ergründen? Es mag sein, daß du in diesen Ländern Aufgaben zu erfüllen hast, und vielleicht findest du dort sogar einen Teil dessen, was du suchst. Ein solcher Akt der Freundschaft und der Ehre wird sich sicher zum Besten wenden.«
Aurian dachte an ihre Liebe zu Forral, die in Freundschaft und Ehre begonnen und mit einer Tragödie geendet hatte, und unterdrückte eine Antwort. Aber der Abschied von Ithalasa war hart. Als sie ihn mit vielen Tränen an dem breiten Delta, das die Flußmündung bildete, zurückließ, fühlte Aurian sich, als ließe sie auch einen Teil ihrer Seele hinter sich. Sie dachte an Forral und Finbarr, an Vannor, Maya, D’arvan und sogar an ihre Mutter – und an Meiriel und den Erzmagusch, die sie so grausam verraten hatten. War ihr Leben dazu bestimmt, voll trauriger Abschiede zu sein? »Hör damit auf, du Idiot!« schalt Aurian sich selbst, als sie durch den klebrigen, roten Schlamm des Deltas watete. »Selbstmitleid wird dir auch nicht helfen.« Sie wischte sich mit ihrem zerfetzten Ärmel die Tränen ab und lächelte ein wenig, als sie daran dachte, wie Anvar sie einmal wegen dieser Angewohnheit gescholten hatte. In diesem Fall hier war sie vielleicht zu seinem Wiedersehen unterwegs, nicht zu einem Abschied. Aurian betete darum, daß es so sein würde.
Die Magusch hatte nicht damit gerechnet, daß die Reise flußaufwärts so lange dauern würde. Das Tal war breit und flach, eingezwängt zwischen hoch aufragenden Felsklüften aus rotem Stein. Sie fragte sich, was jenseits dieser Klippen liegen mochte, aber da sie eine Todesangst vor Höhen hatte, mußte sie es, soweit das möglich war, vermeiden zu klettern. Außerdem hatte sie weder die Zeit noch die Energie für irgendwelche zusätzlichen Wege. Die Reise war auch so schon schwer genug.
Aurian konnte sehen, warum man den Fluß Lebensblut nannte. Der breite, schlammige Strom zeigte dasselbe rostige Rot wie die Klippen, die an seinen Seiten aufragten. Der dünne Streifen Land zwischen den Klippen und dem Fluß war eine flache Ebene von stinkendem, rostbraunen Schlamm und stehenden, vom Schilf bedrängten Gewässern, und wegen des trügerischen, schlammigen Bodens war Aurian gezwungen, bei Tag zu reisen. Sie fühlte sich auf den nackten Schlammzonen schrecklich ungeschützt. Die Sonne brannte unerbittlich auf sie herab und versengte ihre bleiche Haut, und die Luft schien zu dick zum Atmen. Sie konnte nicht einmal ihre Kleider ablegen, denn die surrenden, gefräßigen Insekten, die sie umschwärmten, waren entschlossen, auf jedem Fleckchen nackter Haut nach Nahrung zu suchen. Ihre Hände und ihr Gesicht waren von juckenden, roten Stichen geschwollen, und die Willensanstrengung, derer es bedurfte, um sich nicht zu kratzen, war gewaltig. Aurian wußte, daß sie ihre Zauberkraft hätte nutzen können, um einen Schild zwischen sich und den kleinen Biestern aufzubauen, aber es widerstrebte ihr, ihre ohnehin schwindende Energie für Magie zu gebrauchen, und sie hatte Angst davor, das in einem Land zu tun, in dem es verboten war.
Am zweiten Tag war Aurian bereits vollkommen erschöpft, und sie litt schlimm unter der Hitze. Obwohl sie ihr langes, dickes Haar zu einem Zopf geflochten hatte, zerrte sein schweißgetränktes Gewicht schmerzhaft an ihrem Kopf, bis ihr schwindelig wurde.
Zur Mittagszeit konnte sie es nicht länger aushalten. Sie blieb stehen, um eine Pause zu machen, fand aber unter der brodelnden Sonne keine Ruhe. Nirgendwo gab es Schatten, und es blieb ihr noch nicht einmal die Möglichkeit, im Fluß Abkühlung zu suchen. Auf der Jagd nach den kleinen, aalartigen Fischen, die im Augenblick ihre einzige Nahrung darstellten, war sie großen Eidechsen begegnet, größer als sie selbst und ausgestattet mit langen, bezahnten Kiefern. Davon abgesehen war der Fluß auch voll von Blutegeln. Von den beiden, so dachte Aurian, wären ihr die Eidechsen immer noch lieber gewesen, aber sie war dennoch ängstlich darauf bedacht, auch ihnen aus dem Weg zu gehen.
Ihr Kopf dröhnte. Im Nacken, dort, wo ihr Zopf herabhing, war es ihr unerträglich heiß. Es hatte keinen Sinn. Ihr Haar mußte weg. Ein solcher Entschluß kostete sie nun nicht mehr so viel Überwindung, wie es früher der Fall gewesen wäre, da ihre jüngsten Entscheidungen soviel ernsterer Natur gewesen waren. Sie benutzte ein stehendes, schilfumsäumtes Gewässer als Spiegel, zog den Dolch hervor, den sie Anvar geschenkt hatte, und hackte sich den Zopf ab. Oh, was für eine wunderbare Erleichterung! Aurian fühlte sich buchstäblich leichter. Der abgetrennte Zopf lag mitleiderregend und wie eine tote Schlange auf dem Boden, überzogen mit getrocknetem Schlamm und Schweiß und verfilzt mit Gräsern und anderen namenlosen Dingen. Aurian starrte ihn angeekelt an. Bei den Göttern, dachte sie, wie weit ist es mit mir gekommen? Sie hatte sich immer so sorgfältig um ihr Haar gekümmert, so wie Forral es ihr beigebracht hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war. Es schien, als hätte sie mit dem Zopf auch einen Teil ihres gemeinsamen Lebens abgetrennt. Ich will aber keinen dummen Prinzen. Ich werde dich heiraten. Die Erinnerung an diese kindlichen Worte jagte wie ein gezacktes Messer durch ihre Eingeweide.
Einem Impuls gehorchend, hob Aurian den Zopf hoch und wusch ihn in dem kleinen Teich aus. Augenblicklich löste er sich an dem durchtrennten Ende, und die Masse rotgoldenen Haares floß wie eine Wolke bei Sonnenuntergang im Wasser. Sie ließ das andere Ende des Zopfes verknotet, fischte ihn aus dem Wasser und schlang ihn sich um den Kopf, um ihn so gut sie konnte zu trocknen. Dann wickelte sie ihn fest um ihre Hand und verstaute ihn in einer der tiefen Taschen ihres Lederwamses, wo seine klamme Feuchtigkeit schon bald bis auf ihre Haut hindurchsickerte.
»Du Närrin!« schalt Aurian sich selbst. »Sentimentale Närrin! Du hast dir dieses verflixte Ding abgeschnitten, damit du es nicht länger mit dir herumschleppen mußt.« Aber dennoch war sie froh über ihre Entscheidung – so lange, bis sich das Wasser in dem Teich beruhigte und sie ihr Spiegelbild sah. Wie sah sie nur aus! Obwohl sie nie besonders eitel gewesen war, war Aurian jetzt doch entsetzt. Vorsichtig benutzte sie ihren Dolch, um sich die Haarsträhnen, die zottelig um ihr Gesicht hingen, ein wenig zurechtzuschneiden,’ bis das Ganze nicht mehr allzu schlimm aussah. In diesem Klima war ihre jetzige Frisur gewiß viel bequemer und praktischer, tröstete sie sich, als sie sich wieder erhob und weitertrottete.
An diesem Tag löste sie auch das Problem mit den Insekten, und zwar durch reinen Zufall. Als sie in der Ferne ein Schiff flußabwärts auf sich zukommen sah, blieb Aurian keine andere Wahl, als sich mit dem Gesicht nach unten in den Schlamm zu werfen, um sich zu verstecken, und dann ganz still auf dem Boden liegen zu bleiben, bis die Galeere außer Sicht war. Bei dieser Gelegenheit bemerkte sie auch, daß der stinkende Schlamm, der ihre Haut überzog, ein perfekter Schild war, nicht nur gegen die Sonnenglut, sondern auch gegen die blutsaugenden Biester, die sie so geplagt hatten. Sie dankte der Vorsehung und machte sich mit großer Erleichterung wieder auf den Weg, wobei sie nun ab und zu Pause machte, um ihren Schutz zu erneuern, wenn der Schlamm getrocknet war und sich in der grellen Sonne abgeschält hatte. Meine eigene Mutter würde mich nicht wiedererkennen, dachte sie, und fragte sich, was Eilin so weit weg in ihrem nördlichen Heim widerfahren sein mochte. Würde der Erzmagusch seinen Groll an ihr auslassen? Aurian erzitterte, und sie wünschte sich, irgendeine Möglichkeit zu haben, ihre Mutter zu warnen. Aber wie dem auch sei, sie konnte nichts anderes tun, als ihre Zähne zusammenzubeißen und sich der Aufgaben, die vor ihr lagen, anzunehmen.