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Am vierten Tag wurde das Land allmählich trockener. Aurian sah auf ihrem Weg kleine Streifen kultivierten Landes mit eigenartigen, angepflockten Ziegen und primitiven Hütten aus geflochtenen Binsen: die Behausungen von Bauern und Fischern. Also konnte sie nur noch nachts weitergehen und mußte sich tagsüber in Ermangelung eines besseren Platzes in den von Blutegeln heimgesuchten Schilfbeständen verstecken. Die ständige Gefahr einer Entdeckung war ein schrecklicher Druck für ihre Nerven. Sie hatte gehofft, von den Bauern etwas zu essen stehlen zu können, um ihre unzureichende Fischdiät ein wenig aufzubessern, aber diese Menschen waren so verzweifelt arm und elend, daß sie sich nicht dazu überwinden konnte.

Am sechsten Abend erreichte Aurian schließlich ein Gebiet, das vollkommen kultiviert war. Jedes kostbare Stückchen Erde zwischen dem Fluß und den Klippen war genutzt worden. Die Unterkünfte, die sie jetzt zu sehen bekam, machten einen stabileren Eindruck. Sie bestanden aus Weidenruten und grobem Putz und waren mit den allgegenwärtigen Binsen gedeckt. Nun tauchten auch verkümmerte Bäume auf, und neben dem hochwillkommenen Versteck, das sie ihr boten, war Aurian mehr als erfreut darüber, zu entdecken, daß sie eine reiche Ernte an Nüssen trugen, die zu dieser Jahreszeit in ihrem eigenen Land nicht mehr zu finden sein würde. Aurian dankte den Göttern für diesen Segen.

Zwei Abende später, als sie um eine enge Biegung des Flusses kam, sah Aurian zum ersten Mal die Stadt. Der Anblick überraschte sie so sehr, daß sie sogar die Erschöpfung ihrer achttägigen, anstrengenden Reise vergaß. Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas derartiges gesehen. Gebäude, die im fahlen Mondlicht knochenweiß wirkten, kauerten sich dicht an dicht zu beiden Seiten des Flusses auf den flachen Boden und stiegen dann beinahe senkrecht in die Höhe – auf gefährlich konstruierten Terrassen, die in die Klippen hineingehauen waren, die das gesamte Tal überragten. Schmale, finster aussehende Kriegsschiffe bevölkerten die Kais am Flußufer in stiller Eintracht mit kleineren Booten und niedrigen, flachen Kähnen, deren kunstvolles Aussehen viel beruhigender war.

Die Stadt war erheblich größer, als die Magusch erwartet hatte, und ihre Architektur erschien ihr vollkommen fremd. Die Dächer waren flach oder gewölbt, und einige wurden von schlanken, geriffelten Turmspitzen gekrönt. Auch die Türen und Fenster waren in der Regel gewölbt und unterschieden sich damit sehr von der nützlichen, quadratischen Form, mit der sie vertraut war. Unmögliche Brücken, die vom Boden aus körperlos wie dünne Fäden wirkten, spannten sich hoch über ihrem Kopf, Hunderte von Fuß weit und tausend Fuß hoch. Bei dem bloßen Gedanken daran wurde Aurian mit ihrer irrationalen Höhenangst übel und schwindelig. Der Mangel an schützenden Mauern verwirrte sie, da sie nicht wissen konnte, daß die Klippen jenseits der Stadt von etwas viel Mächtigerem, viel Erschreckenderem bewacht wurden, als es eine von Menschen ersonnene Verteidigung je sein konnte.

Aurian schob sich das zerzauste Haar aus den Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Es würde kein Problem sein, in die Stadt hineinzukommen – aber was sollte sie tun, wenn sie erst einmal drin war? Wie sollte sie Anvar und Sara in einer Stadt von dieser Größe finden? Und waren sie überhaupt dort? Lebten sie noch? Warum hatte sie sie überhaupt allein gelassen? Um diese Fragen kreisten unaufhörlich ihre Gedanken, aber sie fand keine Antworten darauf.

Erst nach einer ganzen Weile wurde Aurian sich ihrer ungeschützten Position bewußt, und sie wandte sich nach rechts zu den Klippen, wo sie in einem Hain niedriger, knorriger Bäume Schutz fand. Sie erkannte sie wieder; es waren dieselben Bäume, die sie auch auf ihrem Weg flußaufwärts begleitet hatten, und wie erwartet hielten sie eine reiche Ernte reifer Nüsse für sie bereit. Mit dem Kind in ihrem Bauch, das ihre Energie aufsog, war Aurian schon wieder halb verhungert. Hastig sammelte sie, bevor auch der letzte Lichtstrahl des Mondes hinter den Klippen verschwand, eine große Menge Nüsse. Dann machte sie es sich zwischen den hohen Wurzeln eines alten Baumes bequem und begann, die harten Nußschalen mit dem Griff ihres Dolches aufzubrechen.

Nach dem Essen ging es ihr wieder besser, und sie konnte sich den vor ihr liegenden Problemen zuwenden. Von Forral hatte sie die Methode gelernt, ein Problem in kleine, lösbare, einzelne Schritte aufzuteilen. Welchen Schritt mußte sie in diesem Fall als ersten tun? Nun, vor allem mußte sie aufhören, sich Sorgen zu machen. Wenn Anvar und Sara dort waren, würde sie sie finden. Und wenn nicht, würde sie darüber nachdenken, wenn die Zeit dazu gekommen war. Immer schön eins nach dem anderen. Um in die Stadt zu kommen, ohne Verdacht zu erregen, mußte sie einige Kleider stehlen, mit denen sie ihre zerlumpte Kampfmontur ersetzen konnte. Sie mußte erreichen, daß man sie für eine Eingeborene hielt, also war es wichtig, erst einmal herauszufinden, wie diese Leute aussahen, und sich dann eine passende Verkleidung zu suchen. Da sie eine Magusch war, würde die Sprache ihr keine Probleme bereiten. Wenn sie mit ihrer Verkleidung fertig war, würde sie sich beschaffen müssen, was auch immer in diesen Gefilden als Geld benutzt wurde. Aurian begriff mit grimmiger Belustigung, daß sie ihrer wachsenden Sammlung von Fähigkeiten, seien sie nun magisch oder kriegerisch, nun auch den Diebstahl würde hinzufügen müssen. Sie streckte ihre schmerzenden Glieder und gestattete sich, sich zu entspannen. Jetzt, da sie einen Plan hatte, konnte sie sich im Versteck dieser schützenden Bäume i eine Weile ausruhen. j Voller Erschöpfung versank sie zwischen den Baumwurzeln j in tiefem Schlaf. Als der Morgen dämmerte und die Vogeljäger mit ihren Hunden und Netzen herbeikamen, schlief sie immer noch. Die Hunde hatten sie sofort entdeckt, und ihr Jaulen weckte sie gerade rechtzeitig, um ihr Schwert zu ziehen und sich gegen die Herren zu verteidigen. Die Jäger waren keine Krieger. Aurian tötete einen und setzte zwei weitere außer Gefecht, bevor ihre Kameraden es schafften, sie in ihren Netzen zu fangen.

Der Aufruhr hatte die Bauern, die auf den Feldern in der Nähe arbeiteten, herbeigelockt, und schließlich fand Aurian sich hilflos in den Netzen verfangen am Boden liegend wieder, umgeben von einer erstaunten, lautstarken Menschenmenge.

»Seht euch nur diese blasse Haut an!«

»Und dieses Haar. Es hat die Farbe von Blut!«

»Ein Krieger?«

»Ein Dämon?«

»Eine Frau?«

»Sie hat den armen Harz getötet!«

»Holt den Ältesten!«

Fluch über den Ältesten, dachte Aurian und bewegte ihre Hände ein wenig, um ihre Feuermagie zur Hilfe zu rufen, damit sie die Netze verbrennen konnte. Die Bewegung war unklug. Die Bauern sahen sie, und der rohe Schlag eines Knüppels raubte ihr das Bewußtsein.

Aurian erwachte mit rasenden Kopfschmerzen. Sie lag auf dem marmornen Fußboden einer langen, weißen Halle, immer noch gefangen in dem Netz der Vogeljäger und fest verschnürt mit einem Seil. Ihr Stab steckte immer noch in ihrem Gürtel, aber ihr Schwert war verschwunden. Die Magusch fluchte leise. Es sah so aus, als hätte man sie in die Stadt gebracht, und nachdem sie sich kurz umgesehen hatte, glaubte sie, sich in einer Art Gerichtssaal zu befinden. Die Richter, so fand sie schließlich heraus, wurden respektvoll als Gebieter bezeichnet. Es gab drei davon, alle gleichermaßen gekleidet in lange, weiße Gewänder; sie trugen einen fließenden, weißen Kopfschmuck und saßen auf einer erhobenen Plattform am anderen Ende der Kammer hinter einem Tisch. Die weißen Masken, die sie vor ihren Gesichtern trugen, verwandelten sie in anonyme, ausdruckslose Wesen. Für Aurian war das ein beängstigender Anblick. In ihrem Land war weiß die Farbe die Todes.

Aus den Geschichten, die Forral ihr erzählt hatte, glaubte Aurian zu wissen, daß die braunen, dunkelhaarigen, feinknochigen Menschen die Khazalim sein mußten. In diesem Fall würde der Gebrauch ihrer Magie den sofortigen Tod bedeuten; sie hatte bereits gesehen, daß überall auf der oberen, umlaufenden Galerie der Halle Bogenschützen Wache standen. Daher beschloß sie, sich die Magie als letzte Möglichkeit offenzuhalten – sie würde abwarten und sehen, ob sie sich nicht irgendwie herausreden konnte. Während ihre Wächter darauf warteten, an die Reihe zu kommen, hörte Aurian, wie die Gebieter die anderen Fälle behandelten. Die Bestrafungen waren von grausamer Härte. Der Verlust einer Hand für Diebstahl, Kastration oder Steinigung für ein ehebrecherisches Paar. Bei den Göttern, wie würde die Strafe für Mord aussehen? Angst ballte sich in Aurians Magen zu einer eisigen Faust zusammen, und sie straffte sich. Sie würde ihr Leben teuer verkaufen. Allerdings nicht hier, nicht mit diesen Bogenschützen im Rücken. Wenn sie sie hinrichten wollten, würden sie sie gewiß nach draußen bringen …