Aurian spürte einen heißen Zorn in sich aufsteigen. Diese Leute, die so heftig gegen die Benutzung von Zauberei protestiert hatten, hatten selbst zu negativer Magie gegriffen, um Aurians magische Kräfte zu fesseln. O ihr Götter, dachte Aurian verzweifelt. Wie soll ich nur jemals wieder hier herauskommen?
Das Kriegerquartier in der Arena war sehr angenehm – für ein Gefängnis jedenfalls. Aurians Zelle hatte verriegelte Fenster und eine stabile Tür, aber die glatten, weißen Wände und der braun geflieste Boden waren makellos sauber, und sie hatte einen Tisch, einen Stuhl, eine Truhe und ein schmales Bett für sich. An den Wänden waren Haken befestigt, an denen sie ihre Kleider aufhängen konnte, und ein gewebter Teppich auf dem Boden brachte einen Hauch fröhlicher Farbe in die Zelle. Aurian konnte sich kaum noch daran erinnern, wie sie hierher gekommen war. Irgend etwas hatte ihr geholfen und ihre Fesseln gelöst, und sie war zu Tode erschöpft auf dem Bett eingeschlafen.
Als sie erwachte, dämmerte es bereits. In einer Nische hoch oben in der Wand brannte eine Öllampe unerreichbar hinter einem kleinen Eisengitter, wahrscheinlich für den Fall, daß sie beschließen sollte, sich selbst in Brand zu setzen, dachte sie trocken. Die Schmerzen und die Erschöpfung waren verflogen, und nur eine gräßliche graue Leere war zurückgeblieben – das Fehlen ihrer Magie. Aurian kämpfte die Panik nieder, die sie zu ersticken drohte. Sei kein Narr, sagte sie sich, sonst wirst du niemals hier herauskommen. Aber oh, diese trostlose, kalte Leere … Gewöhn dich besser daran, befahl sie sich unnachgiebig. Und zwar schnell.
Sie setzte sich auf, suchte den Raum ab und sah eine großzügige Mahlzeit auf dem Tisch stehen. Ah, das sah wirklich gut aus! Sie schien schon seit einer Ewigkeit nichts mehr gegessen zu haben. Obwohl die Speisen kalt geworden waren, schmeckten sie ihr wunderbar. Es gab da eine Art Haferbrei aus gekochten Hülsenfrüchten, würzig und wohlriechend, dazu eine Keule gebratenen Fleisches, das sich als Ziege erwies, und ein etwas seltsames flaches Brot. Außerdem stand auf dem Tisch eine Schale mit Früchten und einem weißen Käse, der so stark war, daß ihr die Tränen in die Augen traten – und Wein, ein reicher, dunkler Rotwein, fruchtig und stark. Aurian schlang alles in sich hinein, um die Tage des Fastens wieder wettzumachen. Dann nahm sie sich einen randvollen Becher Wein und die Flasche mit ins Bett, lehnte sich an die Mauer und legte ihre Füße hoch. Sie blinzelte in die tanzende Flamme der Lampe, bis sie alles doppelt und verschwommen sah. Ihr Götter, dieser Wein war wirklich stark! Oder hatte er nur deshalb eine solche Wirkung auf sie, weil sie so erschöpft war?
Die Magusch fühlte sich seltsam betäubt und schwerelos. Der Diebstahl ihrer Zauberkräfte, ihre augenblickliche Zwangslage und der Verlust von Anvar und Sara – an nichts von alledem konnte sie im Augenblick denken. Sie wußte, daß sie irgendwelche Pläne schmieden mußte, aber sie konnte sich einfach nicht dazu überwinden. Seit ihrer Flucht aus der Akademie hatte sie pausenlos unter Druck gestanden, ihr Leben sich immer auf des Messers Schneide befunden. Jetzt war sie gefangen und hatte keine andere Wahl, als stillzusitzen, und ihr Verstand und ihr Geist nutzten die Gelegenheit nach Kräften, um sich auszuruhen und sich zu erneuern. Und der Wein tat das seinige. Langsam fielen ihre Augen zu, und sie begann einzunicken …
Dann hörte sie plötzlich, wie ein Schlüssel im Schloß herumgedreht wurde. Blitzartig setzte Aurian sich auf und blinzelte in das blendende Sonnenlicht, das durch das verriegelte Fenster ihrer Zelle fiel. Sie griff nach ihrem Schwert, aber es war natürlich nicht mehr da. Ein großer, braunhäutiger Mann in mittleren Jahren trat mit einem Tablett in der Hand in die Zelle. Die Magusch machte keine Bewegung, sondern beobachtete ihn, während er zum Tisch ging und seine Last dort absetzte. Sein Kopf war vollkommen kahl, und über dem linken Augen trug er eine Augenklappe. Von der Klappe aus verlief eine bleiche, gezackte Narbe quer über sein Gesicht. Unter seinen weiten, roten Gewändern war sein Körper kräftig, breitschultrig und geschmeidig; er erinnerte sie schmerzlich an Anvar.
Schließlich drehte er sich zu ihr um und verbeugte sich tief.
»Einen schönen Tag wünsche ich dir, Krieger.« Seine Stimme war tief und weich.
Aurian reagierte instinktiv auf seine Höflichkeit und neigte zur Antwort den Kopf. »Einen schönen Tag wünsche ich dir, Herr – und dein Tag wird sicher schöner sein als meiner, fürchte ich«, fügte sie trocken hinzu.
Der Mann lächelte. »Das bleibt abzuwarten. Eliizar bin ich, und Schwertmeister der Arena.« Er verbeugte sich abermals. Aurian erhob sich, rieb sich ihren schmerzhaft steifen Nacken und antwortete ihm in gleicher Manier.
»Aurian bin ich – und eine Närrin, so scheint es, daß ich im Sitzen eingeschlafen bin.« Während sie sprach, fragte sie sich, warum die Armreifen sie nicht ihrer Fähigkeit, die fremde Sprache zu sprechen, beraubt hatten. War es möglich, daß der Zauber eine Lücke aufwies?
Eliizar lächelte. »Du warst wirklich sehr erschöpft – und auch hungrig, wie es scheint.« Er zog angesichts der spärlichen Überreste dessen, was von ihrem Abendmahl übriggeblieben war, die Augenbrauen hoch. »Ich hielt es für das beste, dich erst einmal schlafen zu lassen. Wir haben Masseure hier, die sich um deinen steifen Nacken kümmern können, aber laß uns als erstes miteinander frühstücken. Ich bin neugierig, deine Geschichte zu hören, und sicher, daß du viele Fragen hast, die du mir stellen möchtest.«
Das Frühstück bestand aus hartgekochten Eiern, dem unvermeidlichen flachen Brot und dazu Käse, Honig und Früchten – und einem mit einem flachen Deckel verschlossenen Topf, aus dem das verführerischste Aroma aufstieg.
»Was ist das?« fragte sie Eliizar. Seine Augenbrauen fuhren überrascht in die Höhe.
»Du kennst keinen Liafa? Dann hast du nie gelebt! Liafa ist der Segen des Kriegers – es gibt Kraft, Mut und ein waches Auge.« Er goß ihr eine Tasse von der dampfenden, schwarzen Flüssigkeit ein und reichte sie Aurian, die augenblicklich eine Grimasse zog. Es sah aus wie Schlamm. Aber dann atmete sie noch einmal das berauschende Aroma ein, nahm einen Schluck und – würgte. Der Geschmack war stark und ausgesprochen bitter.
»Es – es schmeckt nicht so, wie es riecht«, sagte sie ein wenig töricht.
Eliizar lächelte und häufte einen Löffel voll Honig in ihre Tasse, den er anschließend energisch verrührte. »Versuchs noch einmal«, drängte er sie. Aurian griff nach der Tasse, als sei sie eine Schlange, aber da sie nicht ihr Gesicht verlieren wollte, trank sie noch einmal davon. Diesmal leuchtete ihr Gesicht vor Freude auf. Nachdem der Honig die Bitterkeit vertrieben hatte, war das Getränk einfach köstlich – und außerdem anregend. Aurian, der es immer schwerfiel, morgens richtig aufzuwachen, war begeistert. Mit großer Lust machte sie sich nun über ihr Frühstück her.
»Wie bist du hierher gelangt, Aurian?« fragte Eliizar und lenkte ihre Aufmerksamkeit vom Essen ab. »Wie ist es möglich, daß eine Dame ein Krieger ist? In diesem Land kennt man keine Schwertkämpferinnen.«
Aurian wiederholte die Geschichte, die sie bereits den Gebietern erzählt hatte. Als sie ihre beiden verlorengegangenen Begleiter erwähnte, wurde Eliizars gesundes Auge schmal. »Ah«, sagte er nachdenklich. »Dann ist an den Gerüchten vielleicht doch etwas Wahres.«
Aurian zuckte bei seinen Worten zusammen. »Was für Gerüchte?«
Der Schwertmeister zögerte. »Es hat vielleicht nichts damit auf sich«, sagte er schließlich. »Du weißt, wie manchmal plötzlich aus dem Nichts ein Gerücht entsteht …«
Aurian umklammerte sein Handgelenk. »Sag es mir!«
Eliizar wandte den Blick ab. »Na schön«, sagte er widerwillig. »Vor ein paar Tagen hieß es auf dem Markt, daß ein Korsarenschiff irgendwo weiter oben an der Küste Fremde gefunden habe und daß eine Frau von überwältigender Schönheit dabeigewesen sein soll. Aber kein Fremder ist meines Wissens in die Stadt gekommen – bis auf dich natürlich.«