Am diesseitigen Zugang der Brücke hatten sich die Apfelbäume aus Eilins Obstgarten zu einem engen Knoten verschlungen. D’arvan sah voller Erstaunen, wie aus jedem Ast mit unheimlicher Geschwindigkeit Früchte hervorbrachen, die es zu dieser Jahreszeit eigentlich gar nicht geben durfte, und während er noch über den Grund dafür nachdachte, schnellte einer der Äste plötzlich zurück und schoß ihm einen Apfel entgegen wie einen Stein aus einer Schleuder. Er duckte sich, aber die harte Frucht traf seine Schulter mit schmerzhafter Gewalt und verpaßte sein Gesicht nur um wenige Zentimeter. Ein wahrer Hagel von Äpfeln folgte dem ersten und zwang D’arvan, zu seinem Schutz hinter einem Baum Zuflucht zu suchen; aber die Wurzeln des Baumes begannen sich in einem Schauer von Erde aus dem Boden zu ziehen, und D’arvan Versteck bewegte sich, um den Obstbäumen einen direkten Beschuß ihres Zieles zu ermöglichen. Das gesamte Tal war in Aufruhr, jedes Ding, das wuchs, eilte hastig zur Verteidigung von Eilin herbei, der Herrin der Erdmagie. Und da sie D’arvan versehentlich für einen Eindringling hielten, hinderten sie ihn daran, ihr zu Hilfe zu eilen. Mit beiden Händen faßte er Mayas Schwert und begann verzweifelt und gedankenlos in seiner Hast auf die ihn umgebenden Äste einzuschlagen.
Ein finsteres Rascheln lief durch die Reihen der Bäume. Ein glutroter Nebel erhob sich schlingernd zwischen den Ästen, die nach ihm griffen – der Zorn des Waldes. Ein Geräusch wie das pfeifende Heulen des Sturmwinds füllte die Ohren des Magusch, während die Äste begannen, sich hin und her zu werfen und mit ihren Zweigen wie mit knochigen Fingern nach seinem Haar und nach seinen Augen zu greifen und an seinen Kleidern zu zerren. Blut troff von seinen Fingerknöcheln, als die Zweige nach seinen Händen schlugen, und versuchten, ihm das Schwert zu entreißen. Weit, weit weg, so schien es, hinter dem fauchenden, tobenden Lärm des Waldes, hörte er Maya um Hilfe schreien. Hin- und hergerissen versuchte D’arvan, zu ihr zurückzugelangen, aber ein dichtes Gestrüpp aus Stechpalmen, die nur so strotzten vor glänzenden, dolchscharfen Blättern, versperrte ihm den Weg. Der Wald, der sich sein Zögern zunutze machte, warf ihm Wurzeln wie erdverkrustete Tentakel um die Knöchel. Ein scharfer Ruck, und er lag auf dem Boden; dann begannen die Wurzeln, ihn fortzuziehen. – tiefer hinein in das unergründliche Herz des Waldes. Wilde Rosen schlangen sich um seine Hände und gruben die Abdrücke scharfer Stacheln in die zarte Haut seiner Handgelenke und seiner Finger, die noch immer den Griff des Schwertes umklammert hielten. Staubteufel wirbelten über den Boden und bewarfen ihn mit toten Blättern, Erde und Kieselsteinen, die ihm in den Augen brannten.
»Hilf mir!« Da war er wieder, Eilins Schrei. Mittlerweile schwach und voller Verzweiflung, brannte er sich wie ein Feuer durch D’arvans Gedanken.
»Ich kann nicht!« stieß er laut hervor, und Tränen des Schmerzes und der Frustration liefen ihm übers Gesicht. Seine Kleider waren an Knien und Ellbogen bereits vollkommen zerfetzt, und die Haut darunter war blutig aufgerissen. Seine Hände wurden langsam taub, weil die sich immer fester zuziehenden Schlingen der Ranken den Blutkreislauf abschnitten. Schon bald würde er das Schwert nicht mehr festhalten können, und dann hätte er keine Möglichkeit mehr, seiner Lehrerin zu Hilfe zu eilen …
Natürlich! Du Narr! Wo war er nur mit seinen Gedanken gewesen? Er war doch selbst ein Erdmagusch! Kein Wunder, daß der Wald ihn für einen Feind gehalten hatte, nachdem er wie irgendein törichter, unwissender Sterblicher auf ihn eingeschlagen hatte! Mit allen Kräften versuchte er, seine wirbelnden Gedanken zu konzentrieren, um sich daran zu erinnern, was die Lady Eilin ihm während der vergangenen Wochen beigebracht hatte. Dann endlich gelang es ihm, seine Kräfte zu sammeln, und er versuchte, mit seinen Gedanken den Wald zu erreichen – das Herz des Waldes, seine Seele.
Der Wald erwiderte seine Versuche mit heißem Zorn. Sein Verstand wurde eingehüllt hinter einem Nebel siedendheißer Wut. Aber D’arvan ließ nicht locker. Ich bin ein Freund! Ein Freund! Ich will mit euch der Lady helfen! Versteht doch, ich bin ein Erdmagusch, ihr eigener Schüler. Seht ihr? Flehentlich öffnete er sich dem Wald, wie Eilin es ihm gezeigt hatte, und ließ sich prüfen. Er rief die feuchten, berauschenden Düfte des erwachenden Frühlings herbei und den altehrwürdigen Moschus der Mutter Erde, die den Samen in sich aufnimmt; das gescheckte Sonnenlicht im Schatten der Buchen und den diamantenen Tanz des lebendigen Baches; das Silber des Mondlichts und die Seide des Morgennebels; das strahlend weiße Leichentuch der Wintertrauer und die alles durchdringende Fülle des Herbstfeuers.
Und etwas veränderte sich. Wie mit dem Umdrehen eines Schlüssels im Schloß, wie das Fallen von Ketten, wie das Offnen der Klauen des Winters, die das Land mit der Ankunft des Frühlings aus ihrem Würgegriff entließen – genauso war jetzt der Wald bereit, ihn zu akzeptieren. Das Heulen erstarb zu einem gedämpften Murmeln, und D’arvan verspürte unendliche Erleichterung, als der Zorn der Bäume nicht länger auf ihn einhämmerte. Die Wurzeln und Ranken lösten ihren Griff und fielen zu Boden, und vor ihm öffnete sich ein Pfad über den aufgewühlten Boden und die Brücke hinweg vor die Tür des Turmes. Mühsam kam D’arvan auf die Beine, dann rannte er los; nur ein einziger, irriger Zweig schlug ihm hart auf den Rücken, um ihn auf seinem Weg voranzutreiben.
Die Ranken, die sich über die Tür gezogen hatten, fielen mit einem schlangenartigen Rasseln hernieder, als D’arvan mit dem Schwert in der Hand näher kam. Als er an ihnen vorbei in die Küche lief, fragte er sich, ob sie wohl hinter ihm herkommen würden, aber irgendeine Gewalt schien sie davon abzuhalten, in das Gebäude einzudringen. Als er die Wendeltreppe erreicht hatte, fand der junge Magusch auch den Grund dafür. Er taumelte zurück und würgte, als er den Geruch böser Magie wahrnahm. Keuchend und mit überströmenden Augen quälte er sich Schritt für Schritt die Metallstufen hinauf, wobei er die glatte Wölbung des Treppengeländers als Halt benutzte.
Die oberen Räume, die von der Treppe abzweigten, waren vollkommen verwüstet. D’arvan zuckte zusammen, als er das Chaos in jedem Zimmer sah. Die Fenster waren zersprungen, die Holzbänke umgeworfen und zersplittert, die zarten jungen Setzlinge zerfetzt und zertrampelt. Jetzt, da er sich dem Gebrauch seiner Kräfte geöffnet hatte, konnte der Magusch das Elend der Pflanzen beinahe körperlich spüren; ihre winzigen, lautlosen Schmerzensschreie gellten durch seine Gedanken und zerrissen ihm das Herz. Aber von Eilin oder Davorshan war nirgends etwas zu sehen, und so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht länger, Eilins Gedanken zu erreichen. Während er weiter nach oben stieg, suchte er in jeder einzelnen der verlassenen Kammern und fand nur überall dieselbe entsetzliche Zerstörung. Dann, als er um die letzte Biegung der Treppe ging, blieb er plötzlich stehen. Am oberen Ende der Treppe stand eine Gestalt mit einem Schwert in der linken Hand, von dem das Blut herabtropfte. Davorshan. Bei D’arvans Anblick verzog sich sein Gesicht zu einem grausamen, höhnischen Grinsen. »Sei gegrüßt, Bruder«, sagte er. »Dich zu finden hat länger gedauert, als ich dachte – aber dein Tod wird mich für all die Tage des Umherirrens auf diesen verfluchten Mooren entschädigen.« Dann hob er die Klinge und machte, Mord in den Augen, einen Schritt nach vorn.