Aber Aurian, eine große Katzenliebhaberin, hatte das verräterische Zucken der Hinterbeine gesehen. Und bevor die Katze auf sie stürzen konnte, hatte sie sich bereits mit einem Sprung nach vorn fürs erste gerettet. Sie spürte jedoch, wie die Klauen, weißglühendem Eisen gleich, ihren Körper aufkratzten, und hörte ein wütendes Schmerzgeheul, als die Spitze ihres Schwertes die Rippen der Katze streifte. Sie versuchte, wieder auf die Füße zu kommen, um sich umzudrehen und ihrer Feindin entgegenzutreten, aber das verletzte Bein gab unter ihr nach. Und dann war die Katze über ihr, drückte sie mit dem Gesicht nach unten und in den Schmutz und schlug ihr das Schwert aus der Hand – zu weit weg, als daß sie es noch hätte erreichen können. Einige Herzschläge lang machten sie beide keine einzige Bewegung. Die Menge hielt den Atem an. Abermals suchte die Magusch den Geist ihrer Widersacherin. »Du machst einen großen Fehler.« Wenn ihre Situation nicht so verzweifelt gewesen wäre, hätte sie über ihre eigene Frechheit gelacht.
Die grausame Belustigung der Katze flackerte wie ein Peitschenhieb durch Aurians Gedanken. »Aber natürlich«, höhnte sie.
Langsam, ganz langsam, bewegte Aurian sich ein wenig, ohne auch nur zu wagen, den Sand auszuspucken, den sie im Mund hatte. Wie ein sengender Feuerstrom kratzten die riesigen Krallen leicht über ihren Rücken, zerfetzten ihre Lederweste und schlitzten die zarte Haut darunter auf. Aurian schrie auf vor Schmerzen. Aber sie hatte ihr Ziel erreicht. Ihre rechte Hand war jetzt unter ihr und griff nach dem Dolch, den sie sich von Eliizar zurückgestohlen und in ihrer Weste verborgen hatte. Die Katze hatte ihr, ohne es zu wissen, geholfen, als sie die Kampfmontur beinahe vernichtete, und die lange, flache Klinge glitt nun mühelos in Aurians Hand.
Plötzlich traf sie der mächtige Schlag einer gewaltigen Tatze und rollte sie herum, wieder und wieder; die Katze spielte mit ihr wie eine Hauskatze mit einer Maus. Diesmal landete Aurian auf dem Rücken, und ein scharfer Schmerz nahm ihr den Atem. Ihre Rippen? Oder das Kind? Unfähig, den Schmerz zu lokalisieren, spürte Arian, wie heiße Angst sie durchzuckte. Die große Katze sprang auf sie, streckte bereits die Klauen aus, um ihr den Bauch aufzuschlitzen – und gefror, als sie die Spitze von Aurians Dolch an ihrer Kehle spürte.
Die Magusch blickte in die wilden, goldenen Augen, die nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt waren. »Patt, würde ich sagen«, bemerkte sie. Sie bekam keine Antwort, fing jedoch ein ganz schwaches Aufflackern von Zweifeln hinter diesen flammenden Augen auf. Die Menge war wie ein Mann aufgesprungen. Aurian zwang sich, ruhig zu bleiben, das Wagnis einzugehen. »Sie sagen, wenn ich dich töte, bekomme ich meine Freiheit wieder«, erklärte sie der Katze. »Haben sie dir dasselbe angeboten? Du kannst mich natürlich töten, wenn ich mich bewege – aber vielleicht bist du auch nicht schnell genug.«
Die Katze knurrte drohend. Aurian machte in Gedanken noch einen weiteren Vorstoß. »Du hast nichts zu gewinnen mit meinem Tod. Nichts außer einer schnellen Mahlzeit – und ich versichere dir, du wirst mich sehr zäh finden.« Diesmal schien die Katze auf ihren Humor zu reagieren und sich ein klein wenig zu entspannen. Aurian ließ nicht locker. »Aber was wird passieren, wenn wir uns weigern, einander zu töten? Glaubst du, wir könnten uns unseren Weg in die Freiheit erkämpfen? Wenn nicht, könnten wir wenigstens eine Menge von ihnen mit uns in den Tod nehmen. Was haben wir zu verlieren? Willst du vielleicht für alle Zeiten hier eine Gefangene bleiben?«
»Den Menschen kann man nicht trauen.« Der Ton, mit dem die Katze sprach, war vollkommen ausdruckslos.
»Na schön.« Aurian hatte gehofft, daß es nicht dazu kommen würde. Sie sah der Katze noch einmal offen in die Augen. »Das mußt du ganz allein entscheiden. Aber du bist das schönste, das tapferste, das prachtvollste Geschöpf, das ich je gesehen habe. Ich würde gern dein Freund sein, aber auch wenn das nicht möglich ist, werde ich jedenfalls nicht für deinen Tod verantwortlich sein.«
Mit vorsichtiger Bedachtsamkeit nahm sie ihren Dolch von der Kehle der Katze weg und schleuderte ihn von sich, so daß er über den Sand rutschte und weit von ihr entfernt liegenblieb.
Die Menge keuchte auf. Einen Augenblick lang war alles still; dann öffnete die Katze ihre gewaltigen Kiefer, und die langen, tödlichen Fangzähne glitzerten in der Sonne. Die Magusch zuckte zusammen und schloß angesichts ihres bevorstehenden Todes die Augen, aber im letzten Moment schwenkte der große Kopf zur Seite, und eine Zunge, rauh wie eine Stahlfeile, leckte das Blut auf, das aus der Wunde an Aurians Arm sickerte. Aurian öffnete erstaunt die Augen, und der goldene Blick der Katze begegnete dem ihren.
»Mein Name ist Shia«, sagte sie. »Trink mein Blut und sei mein Freund.« Dann wich sie langsam zurück und entfernte ihr Gewicht von Aurians Körper. Verwirrtes Gemurmel stieg in den Reihen der Zuschauer auf. Aurian setzte sich auf, schwach und von übermächtiger Erleichterung erfüllt. Dann legte sie der Katze ihren Mund auf die Rippen und leckte salziges, mit Sand vermischtes Blut auf.
»Mein Name ist Aurian«, sagte sie, »und ich fühle mich geehrt.« Dann brachte sie den Wagemut auf, ihre blutbefleckten Finger auszustrecken, und streichelte Shias breiten, glänzenden Kopf. Und ein Geräusch, das nie zuvor ein Mensch gehört hatte, hallte durch die Arena – das langsame, tiefere Schnurren der großen Katze.
Die Menge, solchermaßen um einen Tod betrogen, brach in wildes Geheul aus. Buhrufe und Pfiffe erschollen, und Wurfgeschosse regneten in die Arena hinunter – Früchte, Süßigkeiten, Trinkbecher, ja sogar Schuhe. Die Tunneltore schwangen auf, und zwei Dutzend bewaffnete und gepanzerte Wachsoldaten kamen in die Arena marschiert. Widerwillig kamen sie näher und verteilten sich, um einen lockeren Kreis um Aurian und Shia zu bilden. Währenddessen versuchte die Magusch, sich auf die Knie zu erheben. Shia trottete zuvorkommend dorthin, wo Aurians Schwert lag, nahm vorsichtig den Griff ins Maul und trug es zu Aurian hin. Aurian versuchte, auf Coronach gestützt, festzustellen, wieweit sie ihr verletztes Bein benutzen konnte. Sie konnte sich zwar, solange sie stillstand, auch ohne Stütze im Gleichgewicht halten – aber nicht, wenn sie sich bewegte. Keine Chance. Aber das wußten diese Männer nicht. Das Schwert in der Hand und Rücken an Rücken mit Shia stand sie da, während der Ring der Wächter sich langsam um sie schloß. »Na schön«, rief sie grimmig aus. »Welcher von euch Hurensöhnen will der erste sein?« Shia fauchte ein drohendes Echo zu ihren Worten. Ihre Angreifer sahen einander zweifelnd an. Offensichtlich wollte keiner der erste sein.
Plötzlich kam Eliizar aus dem Tunnel herausgerannt und überquerte die Sandfläche, so daß er schließlich vor dem königlichen Balkon stand. Der Khisu sprang auf und alle Geräusche verstummten. »Euer Majestät«, rief der Schwertmeister mit zitternder Stimme. »Die Entscheidung über Leben und Tod für diese Kriegerin liegt bei Euch. Der Tod ist die gewöhnliche Strafe für einen, dem es nicht gelingt, seinen Widersacher zu töten, aber diese Frau – diese Kriegerin – hat uns mit der tapfersten Vorstellung in der Geschichte der Arena geehrt. Niemand wird diesen Tag vergessen. Wollt Ihr ihr nicht anläßlich des freudigen Ereignisses Eurer Hochzeit Gnade gewähren?«
Oh, danke, Eliizar, dachte Aurian.
Auf dem Balkon war der König ganz von seiner Entscheidung gefangengenommen. Er schwankte. Begnadigung wäre eine großzügige Geste und eines Khisu wahrhaft würdig, aber die Gebieter hatten ihm von dieser gefährlichen Fremden erzählt, und er war sich nicht sicher, ob er sie in seinem Land auf freiem Fuß haben wollte.
Aurian beobachtete den Khisu und hielt den Atem an. Das war das erste Mal, daß sie ihn ruhig sehen konnte. Er sah jünger aus, als er sein mußte, aber sein Gesichtsausdruck war wölfisch und wild. Unter seinen geraden Brauen glitzerten dunkle Augen mit unbarmherziger Grausamkeit. Sein schwarzes Haar, das ihm weit bis über die Schultern fiel, zeigte keine Spur von Grau, und er trug einen langen, an den Enden herunterhängenden Schnurrbart. Sein Körper war schlank, geschmeidig und muskulös – eine Maschine zum Töten –, und es sah so aus, als benutzte er ihn regelmäßig – und effektiv. Bei den Göttern, dachte Aurian. Es würde mir gefallen, mit ihm zu kämpfen. Allerdings würde es mir vielleicht sogar auch gefallen, mit ihm zu schlafen. Der Gedanke, sehr unpassend in ihrer verzweifelten Situation, schockierte sie. Aber es war unleugbar. Seine Aura war unwiderstehlich anziehend und genauso gefährlich. Er war wie ein prachtvolles, wildes Tier.