Ohne Zweifel hätte Anvar, wäre er ein Sterblicher gewesen, an diesem schrecklichen Ort keine zwei Tage überlebt. Aber irgendwie arbeitete sein Maguschblut, während er schlief, automatisch daran, ihn zu heilen und ihn soweit wiederherzustellen, daß er einen weiteren Tag furchtbaren Leidens überstehen konnte. Mehr jedoch konnte es nicht tun. Anvar hatte keine Ausbildung in den heilenden Künsten genossen, und Miathan hatte ihm das aktive Element seiner Kräfte gestohlen. Nahrung und Ruhe waren nötig, um die Energie, die bei dem Heilungsprozeß verbraucht wurde, wiederherzustellen, und gerade das war hier verzweifelt knapp. Daher wurde er mit jedem schrecklichen Tag immer schwächer; der Heilungsprozeß verlor mehr und mehr an Wirkung und diente schließlich nur noch dazu, sein Elend in die Länge zu ziehen. Dennoch waren die Aufseher über seine Zähigkeit maßlos erstaunt, und es wurden bereits Wetten darüber abgeschlossen, wie lange sich dieser fremde, hellhäutige Nordländer wohl halten würde. Anvar wußte nichts von alledem. An Körper und Geist erschöpft und zu Tode gequält, wollte er nur noch überleben, und der Luxus des Nachdenkens war ein lange vergessener Traum für ihn. Alles, was übrigblieb, war ein schwacher Funke von Bewußtsein, ein sturer, unnachgiebiger Beweis seines Lebenswillens.
Das Mondlicht warf einen betörenden Glanz durch die Gitter der kunstvoll geschnitzten Fensterläden und bildete auf dem hellen, dünnen Laken, das ihr Bett bedeckte, ein filigranes Schattenmuster. Aurian war verwirrt – sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie hierhergekommen war, und sie schien immer noch halb zu schlafen. Aber irgend etwas hatte sie geweckt. Etwas stimmte nicht. Was? Hinten im Nacken spürte sie das Prickeln einer verschwommenen, gestaltlosen Angst, die ihr aus Kindertagen den unvernünftigen Drang zurückbrachte, ihren Kopf unter der Decke zu verstecken, in der Hoffnung, daß das unbekannte Entsetzen sie dort nicht finden würde. Aurian versuchte sich zusammenzureißen und rief sich ins Gedächtnis, daß sie schließlich eine Kriegerin war. Sie lag ganz still da und konzentrierte sich mit allen Sinnen darauf, die Quellen des Übels zu finden.
Ah, da hatte sie sie! Die Stille. Jede Nacht, seit sie in dieses Land gekommen war, war die Dunkelheit mit dem rhythmischen, hohen Zirpen der Nachtinsekten angefüllt gewesen, mit diesem schrillen, nächtlichen Gesang der Zikaden, der kein Ende zu finden schien. Jetzt war alles ganz still. Aurian konnte sich selbst in flachen, ungleichmäßigen Stößen atmen hören, konnte das Hämmern ihres eigenen Herzens vernehmen. Trotz der Wärme des Zimmers bildete sich eisiger Schweiß auf ihrem Rückgrat. Was sonst noch? Etwas fehlte. Shia! Aurian konnte nur das Geräusch ihres eigenen Atems hören. Sonst war niemand im Zimmer. Shia war weg!
Aurian sah sich hektisch um, aber das Zimmer wurde immer dunkler. Etwas saugte das Mondlicht aus ihrem Fenster, verzehrte es, trank es aus, ließ es in einer überwältigenden Woge tiefster Dunkelheit verschwinden. Etwas regte sich dort in der Ecke – sie konnte spüren, wie es sich bewegte, wie es näher kroch – nein – es war ein Gleiten, das sich schweigend auf sie zubewegte. Es kam am Fenster vorbei, und ihr Blut war plötzlich zu Eis geronnen, als sie die Gestalt sah, die ihre alptraumhaftesten Erinnerungen heimsuchte. Nihilim! Miathan hatte die Todesgeister geschickt!
Aurian versuchte sich zu bewegen, versuchte ihr Schwert zu greifen – nein, das würde nichts nützen, die Todesgeister kamen näher und stießen ihr unheimliches, grausames, tiefes Kichern aus, an das sie sich so gut erinnern konnte. Eine Woge von allesumfassender Kälte und von Entsetzen spülte über sie hinweg. Der Zauber! Finbarrs Zauber! Wie ging er noch? Ihr Verstand war in einen Strom der Panik geraten – sie konnte nicht denken. Sie konnte sich auch nicht bewegen. Ihre Zunge war in ihrem Mund erstarrt, und ihre Glieder lagen reglos auf dem Bett. Der Nihilim fuhr auf sie herab, und von seinem gewaltigen Maul tropften lange Fäden schleimiger, klebriger Dunkelheit herab, mit denen er sie verschlingen wollte, so wie er Forral verschlungen hatte … »Forral! Forral!«
»Um des Erbarmens willen, Lady, wach auf!«
Aurian blinzelte, und plötzlich konnte sie wieder klar sehen. Sie saß in ihrem Bett, und das Zimmer erstrahlte im Lampenlicht. Vor ihr stand Harihn und schüttelte sie an den Schultern, sein gebräuntes Gesicht grau vor Schreck. Ihr linker Arm hing in einer Schlinge, und ihr Hals war vom Schreien wund. Shia stand neben ihrem Bett, ihr Gesicht eine Dämonenmaske von Angst und Zorn, und ihre geschlitzten, gelben Augen starrten etwas an, das nicht da war. Es war nicht da! Während Aurians Alptraum verblaßte, entspannte sich die große Katze plötzlich, schüttelte verwundert den Kopf, und während ihre Ohren noch immer flach an ihrem Kopf lagen, zuckte die Spitze ihres schwarzen Schwanzes hin und her. Als die bittere Woge der Reaktion auf ihren Traum sie überflutete, begann Aurian unkontrolliert zu zittern, geschwächt von ihren Wunden und zerschmettert von der lebhaften Erinnerung an Forrals gräßlichen Tod. Das, was sie gerade erlebt hatte, hatte die Narben in ihrem Herzen, die kaum zu heilen begonnen hatten, grausam aufgerissen. Unfähig, etwas dagegen zu tun, brach sie in einem Sturm hysterischen Weinens zusammen.
Sie hörte Harihn fluchen, hörte, wie er einen Diener rief, damit dieser den Arzt holte. Dann war er wieder an ihrer Seite und tätschelte ihr verlegen die Schulter, während sie immer weiter weinte. »Schsch, Lady, schsch«, versuchte er sie hilflos zu beruhigen. »Es war nur ein Traum – ein schlimmer Traum, der von dem Fieber herrührt. Ich bin hier – dein Dämon ist hier. Nichts kann dir etwas anhaben, das verspreche ich dir.«
Dann kam der Arzt. Aurian erinnerte sich vage an den zerknitterten alten Mann mit den runden Schultern, der die zerrissenen Muskeln an ihrer Wade genäht hatte, wobei er die ganze Zeit über unter dem haßerfüllten Blick Shias gezittert hatte, die sich nur mit Mühe davon abhalten konnte, dieses armselige Geschöpf anzugreifen, das ihrer Freundin solche Schmerzen bereitete. Jetzt war er trotz des komischen weißen Nachtgewandes, das er trug, ganz geschäftige Tüchtigkeit. Sein Anblick war so grotesk, daß Aurian am liebsten laut losgelacht hätte, aber sie konnte nicht aufhören zu weinen, und irgendwie vermischten sich Lachen und Schluchzen, bis sie keine Luft mehr bekam. Sie kämpfte sich aus Harihns Umarmung und umklammerte ihre bandagierten, schmerzenden Rippen. Während ihr die Tränen übers Gesicht strömten, konnte sie nur ein hilfloses Wimmern von sich geben.
Aurian hörte, wie der Arzt mißbilligend mit der Zunge schnalzte, dann wurde ihr eine Tasse zwischen die Lippen gezwungen, und hustend und spuckend würgte sie ein übel brennendes Gebräu herunter. »Tief durchatmen, Lady, wenn ich bitten darf«, gurrte der Arzt geduldig; er sprach mit ihr, als wäre sie ein kleines Kind. Dann hörte sie Shias Stimme in ihren Gedanken, vernünftig und tröstend.
»Genug, meine Freundin«, sagte die Katze, »sonst wirst du dir noch Schaden zufügen.«
Mit übermenschlicher Anstrengung bekam Aurian sich wieder unter Kontrolle, soweit jedenfalls, daß es ihr gelang, den Rest des Getränkes herunterzuschlucken. Der feste Knoten in ihrem Innern löste sich langsam, und sie konnte sich entspannen, obwohl sie immer noch zitterte, während sie sich in den Kissen zurücksinken ließ und sich über die Augen wischte.
Harihn sah sie erleichtert an. »Beim Schnitter, Lady, was hast du uns für einen Schrecken eingejagt!« sagte er.
»Unsinn!« sagte der Arzt energisch. »Es war nur das Fieber. Du warst sehr krank, Lady, und das schon seit mehreren Tagen.« Er beugte sich über sie, um ihr eine Hand auf die Stirn zu legen. »Das Fieber ist jetzt gebrochen, also dürftest du eigentlich keine schlimmen Träume mehr haben. Und es wird dich freuen, zu hören, daß dein Kind in Sicherheit ist.«