Das Kind! Das hatte sie ganz vergessen. Und er hatte von Tagen gesprochen. Und da war doch noch etwas, das sie tun sollte – etwas Dringendes –, aber die Erinnerung an Forral ließ sie nicht los, und sie fühlte sich schwach und von den Nachwirkungen ihres Traums verwirrt. O ihr Götter, dieses gräßliche Geschöpf! Aurian schauderte. »Wein?« keuchte sie und versuchte, die Erinnerung zu verdrängen.
Der Arzt lächelte. »Ich weiß, daß meine Patienten auf dem Weg der Besserung sind, wenn sie nach Wein fragen. Habt Ihr hier irgendwo Wein, Euer Hoheit?«
»Ist das auch wirklich gut für sie?« erkundigte der Prinz sich ängstlich. »Ich meine, wegen der Medikamente, die sie bekommen hat – und sie hat überhaupt nichts gegessen …«
»Nun, das läßt sich sicher schnell ändern.« Der Arzt ging zur Tür und gab einem Diener, der dort stand, Anweisungen.
Während sie wartete, versuchte Aurian, sich die Ereignisse der letzten Tage zusammenzureimen. »Wie schlimm sind meine Verletzungen?« fragte sie den Arzt.
Sein verhutzeltes Gesicht verzog sich zu einem Stirnrunzeln. »Lady, du hast mir ganz schön zu tun gegeben! Aber dein Arm heilt, und deine Rippen waren nur angerissen, nicht gebrochen. Bei einiger Pflege sollten sie bald wieder zusammengewachsen sein. Was dein Bein betrifft, da waren die Muskeln schlimm zerrissen. Ich fürchte, es werden Narben zurückbleiben.«
»Das ist nicht wichtig. Kommt es wieder in Ordnung?«
Der Arzt zögerte. »Das sollte es eigentlich«, sagte er endlich.
»Das heißt, wenn du ihm die Möglichkeit gibst, ganz zu heilen. Du darfst dieses Bein noch mindestens zehn Tage lang nicht benutzen, möglichst sogar länger.«
»Was!« Aurian hatte sich mit einem Ruck aufgerichtet und krümmte sich nun, als heißer Schmerz in ihre angebrochenen Rippen fuhr. »Soviel Zeit habe ich nicht.«
»Das mußt du aber.«
»Aber es gibt etwas, das ich tun muß – es ist wichtig!« Verzweifelt versuchte sie sich daran zu erinnern, was es war.
Der Arzt sah sie stirnrunzelnd an, als wäre sie ein ungeduldiges Kind. »Ganz wie es dir gefällt«, erwiderte er schließlich frostig. »Aber wenn diese Muskeln keine Chance haben, richtig zu heilen, wirst du vielleicht dein ganzes Leben lang ein Krüppel sein. Im besten Fall wird das Bein immer schwach bleiben. Du mußt im Bett bleiben, bis ich dir etwas anderes sage. Wenn nicht, trägst du allein die Verantwortung für die Konsequenzen.«
Aurian fluchte wild und hämmerte mit der Faust auf ihr Kissen; die engen Grenzen der Medizin dieser Sterblichen versetzen sie in Rage. Wenn sie doch nur ihre Kräfte hätte, dann könnte sie ihre Verletzungen im Nu heilen!
Gerade in diesem Augenblick kehrte der Diener mit einer Tasse warmer Suppe zurück. »Trink das, Lady«, wies der Arzt an, »dann bekommst du auch deinen Wein.« Trotz ihrer Enttäuschung stellte Aurian fest, daß ihr Magen sich zusammenkrampfte, und es hatte nichts mit ihren Gefühlen zu tun, sondern vielmehr mit Hunger. Eifrig trank sie die Brühe, und der Arzt gab ihr einen Kelch mit einem süßen, roten Wein. »Ihr braucht keine Angst zu haben, Hoheit«, erklärte er dem Prinzen. »Zusammen mit der Droge wird er ihr helfen, wieder zu schlafen, und genau das braucht sie. Vielleicht können wir anderen dann auch unsere verdiente Ruhe finden.« In seiner Stimme schwang ein eisiger Unterton mit. Aurians Hand klammerte sich in Panik fester um den Stiel des Kelches. Sie konnte nicht schlafen! Was, wenn Es in ihren Träumen zurückkäme? Aber es war bereits zu spät. Sie hatte schon das meiste von dem Wein getrunken und spürte, wie eine schläfrige Euphorie in ihr aufstieg. Es tat so gut, nach dem, was sie gerade durchgemacht hatte. Sie hört sich kichernd um noch mehr Wein bitten. Der Arzt schnalzte mißbilligend mit der Zunge, zuckte denn jedoch die Achseln. »Es ist vielleicht das beste so«, seufzte er und schenkte ihr noch mehr Wein ein. »Wovon auch immer sie geträumt hat, es hat ihr einen schweren Schock versetzt. Ihr solltet auch etwas trinken, Hoheit. Ihr seht sehr erschöpft aus. Warum laßt Ihr nicht einen Diener bei diesem undankbaren Frauenzimmer Wache halten? Ihr müßt doch wichtigere Dinge zu tun haben, und Ihr braucht Euren Schlaf.«
Harihn entließ den Arzt mit einigen schroffen Worten des Dankes. Dieser aufdringliche Kerl! Aber da er sich so gut auf seine Kunst verstand, gelang es ihm immer wieder, mit seinen Unverschämtheiten davonzukommen. Der Khisal rieb sich seine müden Augen und drehte sich wieder zu der mysteriösen Dame um, die er so impulsiv aus der Arena gerettet hatte. Sie schlief bereits friedlich, und das Entsetzen, das sich vor kurzer Zeit noch auf ihrem Gesicht abgemalt hatte, war wie weggewischt. Was hatte sie geträumt, das sie in solche Angst versetzen konnte? War es der Name ihres Mannes gewesen, den sie gerufen hatte? Seine Nachforschungen bei den Gebietern hatten ergeben, daß sie wahrscheinlich Witwe war, und der Arzt hatte ihm erzählt, daß sie ein Kind bekam. Das war ein ziemlicher Schock gewesen. In ihrem Zustand war die Vorstellung, die sie in der Arena geboten hatte, geradezu ein Wunder gewesen. Schweigend salutierte er vor ihrem Mut, beugte sich über sie und zog ihr die dünne Decke fester um die Schultern.
Die Dämonenkatze hob ihren Kopf und fauchte, so daß ihre langen, weißen Fangzähne sichtbar wurden. »Schscht«, beschwichtigte Harihn sie, während er sie vorsichtig im Auge behielt. »Du solltest mittlerweile doch wissen, daß ich deiner Freundin nichts Böses will.«
Die Katze ließ ihren Kopf wieder auf die ausgestreckten Pfoten fallen und gab sich damit zufrieden, dem Prinzen noch einen finstere Blick zuzuwerfen. Sie hatte Aurian während ihrer Krankheit die ganze Zeit bewacht und alle, die sich um ihre Freundin kümmerten, mit dem gleichen Argwohn betrachtet. Die meisten Diener hatten schon Angst davor, auch nur den Raum zu betreten.
Harihn, der beschlossen hatte, den Rat des Arztes doch anzunehmen, schenkte sich etwas Wein ein. Dann öffnete er die geschnitzten Fensterläden, die sich von der Decke bis zum Fußboden erstreckten, und nahm seinen Kelch mit hinaus in den wohlriechenden, vom Mond beschienenen Frieden des Gartens. Wie sehr er diesen Ort doch liebte! Der kleine, mit Mauern umgebene Park mit seinen grünen Rasenstücken und den blühenden Pflanzen und Bäumen war eine grüne Zuflucht in dieser ausgedörrten Stadt. Seine Mutter hatte diesen Garten geschaffen, nachdem man sie, eine gefangene Braut, in diesen kleinen aber exquisiten Palast am Südufer des Flusses gebracht hatte – die Arena und der luxuriöse Palast des Khisu lagen auf der anderen Seite. Ihre Weigerung, im selben Haus mit ihrem Herrn und seinem Harem zu leben, war einer der Gründe für ihre Ermordung gewesen. Xiang, der an die unterwürfigen Frauen seines Landes gewöhnt war, konnte mit ihrem Stolz nicht fertig werden, ebensowenig wie mit ihrem verachtungsvollen, niemals verborgenen Haß auf den Mann, der sie mit Gewalt von den Xandim, ihrem eigenen Volk entführt hatte.
Harihn überquerte den Rasen, um sich auf die niedrige, marmorne Mauerkappe zu setzen, die einen Teich umrandete, in dem in vergoldeter Pracht einige Karpfen schwammen. Der Duft der großen, weißen Blüten des Baumes, der über dem mondsilbernen Wasser aufragte, war berauschend, aber seine Gedanken waren anderswo. Nach all diesen Jahren vermißte er seine Mutter immer noch. Er konnte sich lebhaft an sie erinnern – an ihr langes, braunes Haar, ihre blitzenden Augen und den unbeugsamen Geist, den auch die Brutalität seines Vaters niemals hatte zerstören können. Harihn lebte aus den gleichen Gründen hier, wie sie es damals getan hatte – um sich seine Unabhängigkeit zu bewahren und um so weit wie möglich von Xiang entfernt zu sein. Aber es tat weh. Dieser Ort war voll von den Erinnerungen an seine Mutter, und vielleicht war das seine eigene Schuld, denn er hatte es nie zugelassen, daß irgend etwas verändert wurde. Als er die flammenhaarige Fremde in der alten Zimmerflucht seiner Mutter unterbrachte, hatte es unter den Dienern einige hochgezogene Augenbrauen gegeben, um es vorsichtig auszudrücken. Aber irgendwie hatte er das Gefühl gehabt, daß es das richtige war. Ihr Geist, ihr Mut, ihr Stolz und ihre Weigerung, in der Arena zu kapitulieren, hatten solch mächtige Erinnerungen an seine Mutter in ihm geweckt, daß er nicht anders konnte, als einzuschreiten, um dieser Frau zu helfen. Um seine Mutter zu retten, war er damals zu jung gewesen.