Im Winter bestand ein großer Teil der Arbeit für die jüngeren, kräftigeren Männer darin, die Schiffe und ihre Ausrüstung zu reparieren und zu warten. Während draußen die Schneestürme wüteten, zeigten die Frauen Zanna, wie man Netze, Seile und Segel flickt und wie aus Lumpenfäden und rohem Sackleinen die Teppich gemacht wurden, die ihre Füße vor der Kälte der Steinfußböden bewahrten. Außerdem weihten sie sie in die Geheimnisse ihrer wunderschönen, raffinierten Weberei ein, die sie benutzten, um die warmen Wandbehänge anzufertigen, die die düstere Finsternis der Höhlen aufhellten.
Das waren gesellige Zeiten, erfüllt von Lachen und Plaudern, Schwatzen und Neckereien zwischen den jungen Frauen. Es gab auch eine Menge Gerede über die gutaussehenden, wettergegerbten jungen Männer und darüber, wer in wen verliebt war und wer heiraten würde. Zu diesen Zeiten war Zanna zufrieden damit, einfach nur zuzuhören und sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Obwohl Tarnal ihr ergebener Schatten geworden war, hatte sie bereits entschlossen, daß sie keinen anderen als Yanis heiraten würde, denn vom ersten Tag an hatte sie ihn geliebt. Glücklicherweise, oder auch vielleicht unglücklicherweise, hatte der Führer der Nachtfahrer bisher noch keine Ahnung von dem Schicksal, das sie für ihn entworfen hatte – und nun würde er vielleicht auch niemals davon erfahren, denn Zanna mußte fort.
Zanna hielt in dem dunklen Eingang, der zu der großen Hafenhöhle führte, inne, wie gelähmt von dem Ansturm der glücklichen Erinnerungen, die ihr jetzt solchen Schmerz bereiteten. Wütend schüttelt sie den Kopf und wischte sich die Tränen weg. Das würde ihr nicht helfen. Drei kurze Monate lang war sie glücklich gewesen, bis die Botschaft von der jüngsten Katastrophe in Nexis gekommen war. Eine Botschaft von Ungeheuern, gräßlicher, als je ein Mensch es sich hätte vorstellen können; Ungeheuer, die viele Tote gefordert hatten. Sie hatten auch davon gehört, daß der Erzmagusch die Macht ergriffen hatte und die Stadt in seinem Würgegriff des Entsetzens hielt. Und keine Nachricht von Vannor, der seit jener entsetzlichen Nacht, in der so viele gestorben waren, spurlos verschwunden war.
Als Remana ihr diese Neuigkeiten überbracht hatte, waren Zannas Schuldgefühle darüber, Vannor verlassen zu haben, mit überwältigender Macht zurückgekehrt. Sie hatte sofort gewußt, was sie tun mußte. Sie mußte nach Nexis zurückkehren, um ihren Vater zu finden oder zumindest herauszubekommen, was mit ihm geschehen war. Wenn die Nachtfahrer ihren Plan durchschaut hätten, hätten sie sie natürlich niemals gehen lassen – das war auch der Grund, warum sie jetzt spät in der Nacht hier herumschlich und sich auf ihre Flucht vorbereitete.
Es war eine glückliche Fügung, daß es in den letzten Tagen viel gestürmt hatte und die Pferde daher unten in den Ställen der Höhlen standen. Der Schneesturm, der draußen tobte, würde die Reise sowohl schwierig als auch gefährlich gestalten, aber Zanna glaubte, daß es reichen würde, wenn sie an diesem Abend nur irgendwo irgendeine Stelle zum Schlafen finden konnte – dann, wenn sie auf diese Weise die Verfolger, die Remana ihr zweifellos hinterherschicken würde, abgeschüttelt hatte, konnte sie ihren Weg bei Tageslicht fortsetzen. Es sollte doch nicht zu schwierig sein, über die Moore hinweg nach Nexis zu finden? Sie hoffte es jedenfalls.
Zanna spähte in den Bogengang hinein, um nach dem Wachposten, der bei Nacht auf die Schiffe aufpaßte, Ausschau zu halten. Als er in Sichtweite kam und seine Schritte über den Kiesstrand knirschten, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Bisher schien ihr Plan zu funktionieren. Sie hatte sich mit einem letzten Rest von Geduld dazu gezwungen, zu warten, bis Tarnal abends Dienst hatte. Nun holte sie tief Luft und trat ihm entgegen.
»Du bist aber noch spät auf!« Tarnal klang überrascht, aber wie sie erwartet hatte, leuchteten seine braunen Augen bei ihrem Anblick auf. Ach du liebe Güte, dachte Zanna – ich hoffe, ich bringe ihn nicht in allzu große Schwierigkeiten. Es gelang ihr, ein Lächeln zuwege zu bringen.
»Ich konnte nicht schlafen«, erzählte sie ihm kläglich. »Obwohl wir hier unter der Erde sind, scheint der Sturm mich trotzdem aufzuregen.«
»Ach, so geht es vielen von uns«, versicherte Tarnal ihr. »Das heißt, daß du ein guter Wetterprophet bist, wie wir es nennen. Du hast wirklich alle Voraussetzungen für einen guten Nachtfahrer, Zanna.« Er grinste sie schüchtern an, und sie wußte nur allzugut, was in ihm vorging. Er schmachtete schon so lange nach ihr, aber was für ein Zeitpunkt, romantisch zu werden!
»Wie dem auch sei«, sagte Zanna energisch, »da ich nicht schlafen konnte, dachte ich, ich sollte vielleicht in den Stall runtergehen, um nachzusehen, ob mit Piper alles in Ordnung ist.«
Tarnais Gesicht leuchtete auf. »Gute Idee«, sagte er. »Man kann bei diesem wilden Wetter nie wissen, was mit den Pferden los ist. Ich sage dir was – ich komme mit für den Fall, daß du Hilfe brauchen solltest.«
O nein, das wirst du nicht, dachte Zanna grimmig. Wenn du mich allein in diesem schönen, warmen, strohgefüllten Stall erwischt …
»Das ist sehr nett von dir, Tarnal«, sagte sie schnell, »aber wenn Yanis herausfände, daß du deinen Posten verlassen hast, wärst du wirklich in Schwierigkeiten.« Sie sah ihn mit einem kurzen, verschwörerischen Blinzeln an. »Bleib hier, Tarnal – ich bin gleich wieder da.« Mit diesen Worten trat sie hastig den Rückzug an und betete, daß er es sich nicht in den Kopf setzen würde, ihr zu folgen.
Die Stallhöhle war von der Wärme der dicht aneinandergedrängten Tierleiber erfüllt. Als sie eintrat und das schwere Gitter, das den Ausgang verschloß, hinter sich zuzog, konnte Zanna das sanfte Schnauben der Pferde, die im Dunkeln standen, vernehmen, gefolgt von einem Rascheln im Stroh und einem Scharren von Hufen auf den Steinen, als die schläfrigen Geschöpfe ihre Gegenwart bemerkten. Große leuchtende Augen wandte sich in ihre Richtung und funkelten wie Juwelen, als sie das Licht der Lampe, die sie bei sich trug, reflektierten. Zanna stellte sich auf die Zehenspitzen, griff hinauf und stellte die Lampe sehr vorsichtig in eine tiefe, hoch in die Felswand zu ihrer rechten Seite hineingehauene Nische. Es gab strenge Regeln, die sicherstellten, daß die Flammen nicht mit dem zundertrockenen Farngestrüpp in Berührung kamen, das den Boden der Höhle bedeckte. Ein Funke würde genügen, um die Höhle binnen Sekunden in ein flammendes Inferno zu verwandeln.
Zanna schlurfte durch die tiefe Lagerstreu und bewegte sich an der Wand entlang, bis sie an eine Reihe von Haken kam, an denen Sattel und Zaumzeug hingen. Dann durchstöberte sie einen Haufen Farngestrüpp und zog ihren warmen Umhang sowie das Bündel Nahrungsmittel und die anderen Dinge, die sie früher am Abend dort versteckt hatte, hervor. Statt all diese Dinge zusammen mit dem unhandlichen, sperrigen Sattel durch die Menge der ruhelosen Tiere hindurchzuschleppen, beschloß sie, zuerst Piper einzufangen und ihn dann herzubringen. Sie zog Pipers Sattel von seinem Haken, nahm einen Apfel aus der Tasche ihres Rocks und schlängelte sich vorsichtig durch die unruhigen Pferde hindurch, wobei sie sanft nach ihrem gescheckten Pony rief.
Piper gehorchte ihrem Ruf – das hatte sie ihm beigebracht, indem sie ihm jedesmal etwas Gutes mitbrachte, wenn sie ihn reiten wollte. Zanna lächelte, als er gierig seine Schnauze in ihre Handfläche drückte und den Apfel mit einem einzigen Bissen zermalmte. Während er nach Nachschub suchte, ließ sie das Zaumzeug über ihn gleiten und machte es schnell fest. Dann warf sie ungeachtet ihrer Eile die Arme um Pipers gewölbten Hals und barg ihr Gesicht in seiner schwarzweißen Mähne, um ihre Schluchzer zu ersticken. O ihr Götter, wie sehr sie ihn liebte! Und Remana und Yanis und Antor und Tarnal und all die anderen …