Das Pony schnaubte und drehte mit hoffnungsvoll aufgestellten Ohren den Kopf, um an ihrer Tasche zu knabbern. Sie hatte jedoch keine Äpfel mehr – alles, was er fand, war ihr Taschentuch, das er trotzdem herauszog. Zannas Schluchzen verwandelte sich in zittriges Gelächter. »Na vielen Dank, du kluger kleiner Kerl!« sagte sie zu ihm. Nachdem sie ihr durchgekautes und ziemlich feuchtes Taschentuch wieder zurückerobert hatte, führte sie das Pony zu dem Platz an der Mauer, wo sie ihre Sachen zurückgelassen hatte.
Zanna machte Piper an einem Haken fest und drehte sich um, um den Sattel über ihn zu legen – immer eine Strapaze für jemanden, der so klein war wie sie. Nachdem sie den Sattel vorsichtig auf den Rücken des Ponys gelegt hatte, kauerte sie sich unter seinen Bauch, um den herabhängenden Gurt zu finden – und wurde mit einem spitzen Schrei hochgerissen, als eine kräftige Hand sich um ihre Schulter schloß. Zanna wirbelte herum, und ihr Herz hämmerte vor Schreck, als sie sich in den Armen von Yanis wiederfand.
»Ich habe darauf gewartet, daß du weglaufen würdest, seit dem Tag, an dem ich dir von deinem Vater erzählt habe«, sagte der Schmuggler, aber in seinem Gesicht stand Mitleid, nicht Zorn.
»Yanis, bitte, halt mich nicht auf«, bat Zanna. »Ich muß gehen – ich kann es nicht ertragen! Ich muß es einfach wissen, verstehst du nicht …« Tränen schössen in ihre Augen.
»Ich weiß, Mädchen. An deiner Stelle würde ich genauso empfinden«, sagte Yanis sanft, »aber sich allein in diesen Sturm da hinauszuwagen ist keine Lösung. Selbst harte Männer, erfahrene Männer, haben sich in solchen Schneestürmen auf den Mooren da draußen verirrt, und alles, was wir im nächsten Frühling von ihnen fanden, waren ihre Knochen, sauber abgenagt von Wölfen – das heißt, wenn wir überhaupt irgend etwas gefunden haben.«
Zanna starrte ihn voller Entsetzen an. Einen Augenblick lang hatte sie gehofft, ihn überreden zu können … . aber obwohl sie offensichtlich keine Chance hatte, arbeitete ihr schneller Verstand bereits an einem neuen Plan. Yanis würde die Pferde zuerst mit Argusaugen beobachten, aber wenn sie sein Mißtrauen nur lange genug einlullen konnte …
»Na schön.« Sie seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Es tut mir leid, Yanis – ich wußte nicht, daß die Moore so gefährlich sind, aber jetzt, da du es mir erklärt hast …« Sie hielt den Atem an und war sich plötzlich seiner Umarmung bewußt; das war das erste Mal seit dem Tag ihrer Ankunft, daß er sie berührt hatte. Sie wollte nicht, daß er sie losließ, aber wenn ihr neuer Plan funktionieren sollte, war es wichtig, daß sie ihn glauben machte, sie habe sich in ihr Schicksal gefügt. Seufzend schob sie ihn von sich und wandte sich zum Gehen.
»Warte!« Yanis hielt sie am Arm fest. »Ich weiß, was du denkst. Du brauchst nur eine Weile zu warten, und dann kannst du es wieder versuchen – aber das wird nicht funktionieren, verstehst du?«
Zanna keuchte, voller Wut darüber, daß er sie durchschaut hatte. »Und was genau hat dich auf diese Idee gebracht?« fragte sie eisig.
Das Gesicht des jungen Schmugglers verdunkelte sich. »Ich weiß, was du von mir hältst«, sagte er steif, »aber das ist das erste Mal, daß du mir meine Dummheit um ein Haar ins Gesicht geschrien hättest. Nun, laß dir eines gesagt sein – es gibt Dumme und Dumme, und es war nicht schwierig für mich, festzustellen, was du vorhattest. Ich brauchte mich nur einen Augenblick lang in deine Lage zu versetzen. Ich selbst hätte niemals so leicht aufgegeben, und ich war mir sicher, daß du das auch nicht tun würdest, da du deinen Vater so sehr liebst. In diesem Fall warst du die Dumme, weil du mich unterschätzt hat.« Sein Finger schlössen sich noch härter um Zannas Arm, bevor er fortfuhr: »Die Nachtfahrer können dich nicht einfach in deinen sicheren Tod gehen lassen, du kleine Närrin! Ich werde dich nicht gehen lassen! Ich bin ein geduldiger Mann, glaub mir, und es ist Winter, also habe ich nichts Besseres zu tun. Gewöhne dich an den Gedanken, mich in deiner Nähe zu haben, Mädchen, denn ich habe die Absicht, von jetzt an dein Schatten zu sein.«
Zanna starrte ihn mit offenem Mund an. Einen Augenblick lang war sie zu wütend, um zu sprechen. Sie blickte in sein rauhes, hübsches Gesicht; die dunkelgrauen Augen funkelten zornig, und der Mund war jetzt hart und unnachgiebig. Noch vor nicht allzu langer Zeit wäre Vannors Tochter überglücklich gewesen bei dem Gedanken, Yanis ständig an ihrer Seite zu haben. Nun aber erfüllte diese Vorstellung sie mit Zorn und Enttäuschung. »Du Mistkerl!« schrie sie und trat ihm, so fest sie nur konnte, vor das Schienbein. »Ich könnte genausogut deine Gefangene sein!«
Mit einem unterdrückten Fluch ließ Yanis ihren Arm los, und Zanna floh mit Tränen der Wut aus der Höhle.
»Ich könnte genausogut deine Gefangene sein.« Die Erdmagusch Eilin funkelte den Waldfürsten an. »Du hast mir mit Absicht meinen Stab genommen, um ihn D’arvan zu geben, so daß ich nicht in mein Tal zurückkehren kann. Du konntest es kaum erwarten, die Chance zu ergreifen, wieder mit dem Schicksal der Welt da draußen herumzuspielen!«
Hellorin sah sie fest an, erwiderte jedoch nichts auf ihre Anschuldigungen. In Eilin stieg der Verdacht auf, daß er einfach abwarten würde, bis ihr Zorn verraucht war – warum sollte er schließlich seinen Atem in einer fruchtlosen Debatte verschwenden? Gleichgültig, wie sehr sie auch wüten und streiten und protestieren würde, sie war vollkommen in seiner Macht.
Die Magusch stellte fest, daß sie vor Zorn zitterte. »Einmischer!« fuhr sie ihn an. »So war es immer mit den Phaerie! Euch ist es egal, daß der Erzmagusch rücksichtslos die ganze Welt niedertrampelt! Solange ihr nur Euren Einfluß auf die Ereignisse habt, was kümmert es Euch da? Ist dir denn nicht klar, daß ich die einzige Magusch bin, die im Norden noch übriggeblieben ist, um sich Miathan in den Weg zu stellen? Du hast diese zwei Kinder auf mein Tal losgelassen, ausgerüstet mit meinem Stab, um, ganz auf sich gestellt, gegen den Erzmagusch zu kämpfen. Im Namen aller Götter, mein Fürst – sie brauchen mich!«
»Nein, Eilin – sie brauchen dich nicht.« Hellorins Stimme war sanft, aber die verborgene Kraft darin sandte ein Schaudern über die glatte silbergraue Borke, die die Wände des Zimmers bedeckte. Die Magusch versuchte, ihren Zorn weiter anzufachen: Das legendäre Temperament der Magusch war das einzige, was sie bisher davor bewahrt hatte, diesem Koloß von einem Unsterblichen nicht mit allzu großer Ehrfurcht zu begegnen. Sie verschränkte die Arme, und ihre Lippen zogen sich zu einer schmalen Linie zusammen.
»Warum nicht?« wollte sie wissen. »Sag mir einen einzigen guten Grund, warum nicht!«
»Weil ich der Herr hier bin und ich sage, sie brauchen dich nicht!«
Als Hellorin die Stirn runzelte, war es, als hätte sich eine Wolke über die Sonne geschoben, obwohl es in diesem wandellosen, zeitlosen Anderswo keine Sonne gab. Als sich seine dunklen Brauen zusammenzogen, schauderte Eilin bei dem Geräusch eines weit entfernten Donnergrollens. »Sei vorsichtig, Maguschfrau – ich mische mich nicht ein, wie du es nennst. Weder aus Langeweile noch aus Gehässigkeit – obwohl die Schuld, die dein Volk dem meinen gegenüber hat, eine immerwährende Versuchung ist.« Hellorins Stimme war nun wie eine Klinge aus Eis, und Eilin machte unwillkürlich einen Schritt zurück und rieb sich die Gänsehaut, die ihre Arme überzogen hatte.
»Darum geht es also!« zischte sie. »Rache – schlicht und ergreifend Rache. Oh, du magst ja auf deiner Unschuld beharren, mein Fürst, aber wäre ich keine Magusch –«
»Wärst du keine Magusch, hättest du den Mordanschlag von einem Mitglied deines eigenen Volkes nicht überlebt«, erklärte Hellorin ihr mit ausdrucksloser Stimme, und seine Augen glitzerten vor Ärger. »Wärst du keine Magusch, wärst du niemals hierhergekommen, um mich zu quälen!«