Hellorin stieß einen zufriedenen Seufzer aus. In all den Jahrhunderten hatte dieser Anblick es immer wieder geschafft, ihn mit einem Glück zu erfüllen, das eine solche Intensität hatte, daß es beinahe ein Schmerz war. Er lächelte Eilin an, die neben ihm stand, als wäre sie jetzt zu Stein verwandelt. Ihr Gesicht war verzückt und voller Glanz. »Es ist wunderschön, nicht wahr. Schöner, als man es mit Worten ausdrücken kann«, murmelte er. »Obwohl dein Exil für dich bitter sein muß – kann ein solcher Ort deinen Kummer nicht ein wenig lindern, Lady?«
Eilin seufzte. »Ein wenig vielleicht – im Laufe der Zeit.«
»Ach, die Zeit – ja, die Zeit wird schließlich vielleicht alles wieder in Ordnung bringen.« Da er das spöttische Stirnrunzeln der Magusch bemerkte, beeilte Hellorin sich, ihr Aufklärung zu verschaffen. »Dein Exil wird nicht ewig dauern, Lady – nur solange, wie auch wir hier gefangen sind.«
»Was?« keuchte Eilin. »Ich verstehe dich nicht.«
»Es hängt alles mit unserer Magie und deren Beschränkungen zusammen«, erklärte der Waldfürst. »Die Macht unserer Heiler kann sich bisher nicht auf deine Welt ausdehnen, aber wenn wir Phaerie aus unserem Exil entlassen werden, dann werden auch unsere heilenden Kräfte ganz wiederhergestellt sein. Dann kannst du ohne Risiko zurückkehren und gesund und munter weiterleben, wie du es früher getan hast.«
Eilin runzelte immer noch die Stirn. »Aber ich dachte, das alte Geschlecht der Magusch hätte euch hier für alle Ewigkeit gefangengesetzt.«
»Ach, natürlich! Jetzt verstehe ich deine Verwirrung. Ich habe zwar Maya und D’arvan die Prophezeihung erklärt, aber ich hatte ganz vergessen, daß du nichts davon weißt. Aber du bist schwach; und hier mitten auf der Wiese ist auch nicht der richtige Ort für lange Geschichten. Komm mit mir zurück, meine Lady, erfrische dich und ruhe dich ein wenig aus. Dann werde ich dir alles erzählen, was du wissen möchtest.«
»Also hängt eure – unsere – Freiheit von dem Einen ab, der kommt, um das Schwert der Flamme für sich zu fordern?« Eilin war wieder einmal vollkommen niedergeschmettert von ihrer Enttäuschung. Beinahe wünschte sie, Hellorin hätte ihr diese lächerlichen Geschichten erspart. Eine Phaerieprophezeihung war ein zu dünner Faden, um seine Hoffnungen daran zu knüpfen.
»Du mußt Vertrauen haben, Lady.« Hellorin nahm ihre Hand. »Glaub mir, wenn du das Drachenvolk gekannt hättest, wie ich es gekannt habe, dann würden ihre Worte auch dich trösten. Die Dinge sind in Bewegung – wir müssen nur warten.«
»Ja, aber wie lange?« Eine Träne zitterte in Eilins Wimpern. »Die Dinge sind in Bewegung, wie du sagst, aber da draußen in der Welt. Mein Kind hat sich verirrt und ist in Gefahr. Nexis ist gefallen. Das Volk der Magusch ist der Verderbtheit anheimgefallen – und Maya und D’arvan sind draußen im Wald und stellen mit diesem magischen Schwert von dir weiß der Himmel was an …« Ihre Worte gingen in einem Schluchzen unter. »Sie brauchen mich, Hellorin! Während ich mir hier in diesem – diesem Nirgendwo – die Beine in den Bauch stehe und nicht weiß, was geschieht …« Zu ihrem Unwillen hatte sie wieder zu weinen begonnen.
»Schsch, Lady, schsch«, tröstete Hellorin sie. »Was das betrifft, kann ich dich wenigstens beruhigen. Komm, Eilin – ich habe noch ein Wunder, das ich dir zeigen möchte.«
Er nahm die Hand der Magusch in die seine und führte sie von dem Feuer weg auf das andere Ende der Halle zu. Dort führte zu Eilins Überraschung eine kurze, steinerne Treppenflucht wenige Stufen nach oben und endete dann plötzlich im Nichts. Sie gingen lediglich ein paar Stufen hoch und blieben dann stehen. Vor ihnen war die Wand hinter einem üppigen, herabhängenden, grüngoldenen Brokatvorhang verborgen. Hellorin zog den Vorhang beiseite.
Eilin keuchte. Dort, hoch oben in der Mauer, befand sich ein prachtvolles Fenster aus glitzernden, vielfarbigen, wie Sonnenstrahlen geformten Kristallen. An den Rändern befanden sich prächtige Paneele, die ein funkelndes Licht auf die Kammer warfen. In der Mitte war ein einzelner, kreisförmiger Kristall, der, von der Treppe aus betrachtet, genau auf Augenhöhe angebracht war.
»Hier.« Hellorin schob sie, einen Arm um ihre Schultern gelegt, ein Stück weiter. »Schau durch mein Fenster.«
»Oh!« Die Magusch blinzelte, rieb sich die Augen und schaute näher hin. »Aber bei allen Göttern – das ist ja Nexis!« Sie fuhr herum, um ihn mit plötzlichem Argwohn anzusehen. »Ist das wieder eine von deinen Phaeriegaunereien?«
»Auf meinen Eid, das ist es nicht!« Der Waldfürst funkelte sie ärgerlich an. »O ihr Götter, wenn du nicht das widerspenstigste, halsstarrigste Geschöpf bist, das sich je in diesen Mauern aufgehalten hat …« Plötzlich stieß er ein sanftes Lachen aus und schüttelte den Kopf. »Nein, einen solchen Kampf von Geist und Willen habe ich nicht mehr erlebt, seit ich meine arme Adrina verloren habe. Vertrau mir, Lady Eilin – dich würde ich nicht täuschen. Das hier ist mein Fenster zur Welt – ein Vermächtnis deiner erbärmlichen Vorfahren, zweifellos dazu bestimmt, mich mit all dem zu quälen, das uns Phaerie entging. Durch dieses Fenster habe ich auch zum ersten Mal Adrina gesehen, wie sie im Wald ihre heilenden Kräuter sammelte.« Er seufzte. »An dem Tag, an dem ich sie verlor, habe ich das Fenster zudecken lassen, und seitdem hat niemand mehr hindurchgesehen. Aber wenn es dich erleichtert, Lady, werden wir hierherkommen, wann immer du es wünscht, und gemeinsam Wache halten, bis unser Exil schließlich ein Ende nimmt.«
Die Erdmagusch blickte zum Fürst der Phaerie auf, plötzlich zutiefst gerührt über seine Freundlichkeit. Wie konnten ihre Vorfahren nur so grausam gewesen sein, diesen prachtvollen, liebenswerten, großherzigen Mann aus der Welt auszuschließen? Ihre Finger schlössen sich um seine Hand, und zum ersten Mal seit ihrer Bekanntschaft lächelte sie zu ihm auf. »Ich danke dir, mein Fürst«, sagte sie einfach. »Das würde mir sehr gefallen.«
26
Ein Handel mit dem Tod
Anvar war schließlich am Ende seiner Kräfte angelangt. Nach vielen Tagen im Sklavenlager – er konnte nicht mehr sagen, wie viele es gewesen waren – lag er mit einem Fieber danieder, das die grausamen, stechenden Insekten übertrugen. Eines Morgens war er unfähig gewesen, sich zu erheben, und sein Körper wurde von einem zitternden Delirium heimgesucht. Der Aufseher rollte ihn mit dem Fuß zur Seite. »Der da ist fertig.« Die Worte hallten unheimlich in Anvars schwindendem Bewußtsein wider. »Schick die anderen zur Arbeit, um den da kümmern wir uns später. Wie schade, er hat mir schon einen ganzen Monatslohn eingebracht. Wenn er sich nur noch ein kleines bißchen länger gehalten hätte, wäre es mehr gewesen.« Das waren die letzten Worte, die Anvar hörte, bevor er hinuntergezogen wurde, hinab in eine unendliche Spirale der Finsternis. In diesem Augenblick fielen aller Kummer, alle Schmerzen und alle Schwächen von ihm ab, und zufrieden ließ er sich treiben, um seine letzte Reise anzutreten.
Für mehrere Tage nach ihrer Unterhaltung mit Harihn tat Aurian nichts außer essen und schlafen und sich mit dem Arzt darüber streiten, wann sie endlich das Bett verlassen durfte. Die Suche nach Anvar hatte keine Fortschritte gemacht, und Aurian konnte es kaum erwarten, endlich die Dinge voranzutreiben. Aber der Arzt blieb unerbittlich, und zu ihrem Widerwillen mußte sie feststellen, daß Shia sie davon abhielt, ihr verwundetes Bein auszuprobieren, denn sie hatte sich unerwarteterweise, aber mit großer Entschlossenheit auf die Seite des verhutzelten, kleinen Mannes gestellt. Da die große Katze ihr nie von der Seite wich, war Aurian hilflos ans Bett gefesselt, aufopferungsvoll bedient von dem gigantischen Bohan. Aus Dankbarkeit für seine Ergebenheit und die wohlmeinende Sorge sowohl von Shia als auch von ihrem Gastgeber, versuchte Aurian, ihren Ärger im Zaum zu halten, aber ihre Enttäuschung wuchs mit jedem neuen Tag.