Auf der Stelle war das alte Glitzern wieder in Aurians Augen zurückgekehrt. »Gut«, sagte sie. »ich dachte schon einen Augenblick lang, ich müßte Euch erst dazu überreden. Wie bald können wir aufbrechen?«
Harihn starrte sie an und ließ seinen Blick über die Verbände auf ihren Rippen gleiten, die durch das hauchzarte weiße Gewand, das sie trug, deutlich sichtbar waren; ihr linker Arm lag immer noch in einer Schlinge. Auf ihren Armen und ihrem bleichen Gesicht waren immer noch langsam verblassende blaue Flecken zu sehen. »Aurian, du kannst nicht mitkommen«, erklärte er mit fester Stimme.
Aurian biß die Zähne zusammen. »Wollt Ihr darauf eine kleine Wette machen, mein Prinz?«
Zu jeder anderen Zeit wäre die Reise flußaufwärts ein Vergnügen gewesen. Aurian und Harihn saßen bequem auf Kissen unter einem schattigen Baldachin, und der immer aufmerksame Bohan verjagte mit einem Fächer die Insektenschwärme, die über den träge dahinfließenden Wassern schwebten. Obwohl Harihn seine extravagante, königliche Barkasse zugunsten eines einfacheren Schiffes aufgegeben hatte – um so wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen wie möglich –, genossen sie auf der Reise jeden nur erdenklichen Luxus. Früchte und Wein standen bereit, aber die Magusch war viel zu aufgeregt, um zu essen. Sie saß hoch aufgerichtet da, blickte flußaufwärts und versuchte die Ruderer mit ihrem Willen voranzutreiben. Noch nie in ihrem Leben hatte sie Fingernägel gekaut, aber jetzt tat sie es. Harihn beobachtet sie mit einem Stirnrunzeln. »Aurian«, sagte er schließlich. »Mußt du so ein Theater machen?«
»Was denkt Ihr Euch eigentlich?« fuhr Aurian ihn an. »Wie soll ich denn weniger Theater machen, wenn Anvar so furchtbar leiden muß. Ich gebe mir selbst die Schuld daran.« In ihrer Stimme schwang Bitterkeit mit.
»Aurian, was hättest du denn tun können?« Der Prinz setzte sich auf und legte eine beschwichtigende Hand auf ihren Arm. »Du nimmst zuviel auf dich. Was geschehen ist, ist geschehen – vergiß nicht, wie nahe du selbst dem Tod gewesen bist. Du hättest Anvar den Rücken kehren können, so wie die Khisihn es getan hat, aber du hast es nicht getan. Was hättest du denn sonst noch tun können? Ob wir rechtzeitig kommen oder nicht, es wird jedenfalls nicht schneller gehen, nur weil du dich so aufregst.«
»Das weiß ich«, sagte Aurian unglücklich. »Ich kann nur einfach nicht dagegen an.«
Als die Barkasse sich der Mole vor dem Sommerpalast näherte, konnte Aurian selbst sehen, wie furchtbar die Sklaven dort mißbraucht wurden und wie sehr sie litten. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Es war doch wohl kaum möglich, daß Anvar das hier überlebt hatte? Warum hatte sie ihn nur je allein gelassen? Ihre Finger umkrampften die Reling der Barkasse, und ihre Nägel gruben sich in das weiche Holz.
Als sie ihr Boot endlich sicher vertäut hatten, trug Bohan die Magusch an Land und setzte sie auf den staubigen Boden, während Harihn nach dem Sklavenmeister schickte. Sie warteten, Aurian in einem Fieber von Ungeduld. Shia hatte zu ihrem größten Mißfallen zurückbleiben müssen, aber Harihn hatte den Arzt mitgebracht. Der kleine Mann runzelte die Stirn und schürzte angesichts dessen, was er sah, mißbilligend die Lippen. Als Aurian seinen Blick auffing, antwortete er ihr mit einem leichten Kopf schütteln. »Oh, bitte«, begann sie zu beten, obwohl sie genau wußte, daß die Götter, mit denen sie aufgewachsen war, nichts anderes waren als Magusch, genau wie sie selbst. »Bitte …«
Ohne weiteren Verzug kam auch schließlich der Sklavenmeister herbeigeeilt. Als er zu seiner Überraschung seinen Prinzen erkannte, ließ er sich am ganzen Leibe zitternd auf den Boden fallen. Harihn forderte ihn hastig auf, sich zu erheben, und zog ihn beiseite, so daß Aurian ihr Gespräch nicht mitanhören konnte. Es schien endlich zu dauern. Obwohl sie nichts hören konnte, konnte sie doch sehen, wie der Sklavenmeister abwehrend die Hände hob und energisch den Kopf schüttelte. Schließlich schnipste Harihn, der der Auseinandersetzung müde geworden war, mit den Fingern. Auf der Stelle kletterten zwei grimmig aussehende und mit großen, geschwungenen Krummsäbeln bewaffnete Palastwachen aus der Barkasse und stellten sich mit gezückten Klingen links und rechts von dem Sklavenmeister auf. Der Sklavenmeister sank flehend auf die Knie. Dann hob er die Hand, wie um irgendwohin zu zeigen! Aurian wandte ihren Blick in dieselbe Richtung. Das Sklavenlager.
Harihn kehrte mit grimmigem Gesichtausdruck zu ihr zurück. »Anvar ist hier«, sagte er. »Bohan wird mich sofort zu ihm bringen, denn die Nachrichten sind sehr ernst. Der Sklavenmeister sagt, er liegt im Sterben.«
Der Gestank in dem Lager war überwältigend. Bohan setzte Aurian neben der einzigen Gestalt ab, die sich zu dieser Tageszeit noch dort befand, in sich zusammengekauert auf der gegenüberliegenden Seite in dem dürftigen Schatten, den die hölzernen Palisaden spendeten. Aurian keuchte. Anvar war kaum noch zu erkennen. Seine gerötete Haut schälte sich und war von Blasen überzogen, seine Lippen waren gesprungen, sein Körper unter dem Schweiß und Schmutz von blauen Flecken und Wunden überzogen. Er atmete kaum noch. Aurian zog ihren Arm aus der Schlinge und hob seinen Kopf auf ihren Schoß, um ihm mit dem Ärmel ihres Gewandes den Staub aus dem Gesicht zu wischen. Tränen trübten ihren Blick. »Schnell!« fuhr sie Bohan an. »Hol etwas Wasser!« Der Eunuch eilte davon, und Aurian winkte den Arzt zu sich. Sein Gesicht war sehr ernst, nachdem er seine Untersuchung abgeschlossen hatte.
»Der Mann stirbt«, sagte er einfach.
»Aber du kannst doch gewiß etwas für ihn tun?« flehte Aurian. Zum ersten Mal, seit sie ihn kennengelernt hatte, verrutschte die professionelle Maske des Arztes. Er legte ihr mitfühlend eine Hand auf die Schulter. »Lady, ich kann nichts tun, ich kann höchstens sein Leiden beenden und ihn ein wenig vorantreiben auf seinem Weg. Das wäre bei weitem das gütigste.«
»Das kommt nicht in Frage!« In ihren Augen blitzte ein solcher Zorn auf, daß der Arzt sich vor Entsetzen auf den Boden warf. »Mach, daß du hier rauskommst!« zischte Aurian ihn an. »Raus!«
Als der kleine Mann davonstolperte, nahm sie Anvars vernarbte Hände in ihre eigenen. Als ihre Tränen auf sein Gesicht fielen, fühlte Aurian, wie eine qualvolle Erinnerung durch ihr Herz schoß. So etwas hatte sie schon einmal durchgemacht. Damals, als Forral starb. Mit einem scharfen Zischen holte sie Luft. »Ich verfluche dich, Anvar, wage es nicht, mir auch noch wegzusterben. Ich kann das nicht noch einmal ertragen. Ich werde es nicht zulassen, daß du stirbst!«
Sie hielt Anvars Hände mit einem eisernen Griff umklammert, als könne sie ihn durch schiere Gewalt zurück ins Leben ziehen. Verzweifelt kämpfte sie um Zugang zu ihrer Zauberkraft – kämpfte darum, ihn zu erreichen, ihn zu heilen –, aber ihr Wille glitt ihr wie Wasser durch die Finger, aufgesogen von dem toten, grauen Strudel, mit dem die Armreifen all ihre Macht verschlangen. Aurian biß die Zähne zusammen, um nicht zu verzweifeln. Aber je mehr sie es versuchte, um so intensiver spürte sie, wie sie immer schwächer wurde, während ihre Kräfte in die Armreifen flössen. Ihr Blick trübte sich, ihre Wahrnehmung dieses widerlichen Ortes und der gnadenlosen Sonnenhitze löste sich auf, bis ihr Bewußtsein, so schien es, an einem einzigen dünnen Faden ihres Willens hing. Aber dieser Faden war aus Diamant. Sie kämpfte weiter, kämpfte sich durch einen Tunnel endloser Schwärze und weigerte sich, nachzugeben.
Eine sanfte Berührung an der Schulter holte Aurian mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurück. Sie war halb ohnmächtig und wie betäubt über Anvars reglosem Körper zusammengesunken, und ihr Verstand raste, als sie erschrocken die plötzliche Veränderung bemerkte. Sie konnte seinen Atem nicht mehr spüren. Nein! Es konnte nicht vorbei sein! Langsam und verschwommen erkannte sie Bohan, der mit einem Krug Wasser in der Hand neben ihr auf dem schmutzigen Boden kniete.
Mit sanften Fingern wischte er die Tränen aus Aurians Gesicht, und in seinen eigenen Augen standen ebenfalls Tränen des Mitleids. Da plötzlich rastete etwas in ihrem Gehirn ein. Sie erinnerte sich an die Arena – erinnerte sich daran, wie sie Kraft von der Menge um sie herum in sich aufgesogen hatte. »Bohan«, flüsterte sie, »willst du mir helfen?«