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Der Riese zögerte einen Augenblick lang, und in seinen Augen stand Furcht. Dann nickte er.

»Leg deine Hände auf meine«, wies Aurian ihn an. Er tat wie geheißen, und seine großen Hände umschlangen sowohl die Hände der Magusch als auch die Anvars. Aurian holte tief Luft. »Gut. Jetzt mußt du vollkommen still und entspannt sein. Leih mir deine Stärke, Bohan, um Anvars Leben zu retten.«

Aurian konzentrierte sich, wie sie es noch nie zuvor getan hatte, und versuchte mit aller Gewalt, die Barriere, die die Armbänder errichteten, zu überwinden. Dann kam es plötzlich. Wie ein Schleusentor, das sich öffnete, so floß Bohans Kraft in sie hinein und vergrößerte ihre eigene Kraft. Durch einen rötlichen Nebel sah sie die rostfarbenen Steine der Armreifen pulsieren und wie winzige Kohlenstückchen aufglühen, als sie sich an Aurians Magie übersättigten. Eine sengende Hitze fraß sich in ihre Handgelenke, aber sie schenkte ihr keine Beachtung. Mit plötzlichem Erschrecken begriff sie, daß die Armreifen Zauberkraft gelagert hatten – nicht nur ihre eigene, sondern auch die Kraft aller anderen Magusch, die sie jemals vor ihr getragen hatten. Wenn sie Zugang zu dieser Kraft finden konnte, und sei es auch nur für einen einzigen Augenblick, dann konnte sie selbst die Mauern des Todes durchbrechen. Aber wie sollte sie an diese Kraft herankommen – was war der Schlüssel dazu? Na komm schon, drängte Aurian sich selbst. Denk nach! Anvars Leben hängt davon ab. Sie spürte, wie ihre Gedanken sich ihm zuwandten und dann nach dem Wesenskern des Mannes griffen. Anvar. Diese stechenden blauen Augen, in denen sein Lächeln funkelte, sein seltenes Lächeln – die Art, wie es sein Gesicht verändert. Die Erinnerung an sein Lächeln schoß wie ein Pfeil durch ihr Herz, und ihr Herz krampfte sich in ihrer Brust zusammen …

Plötzlich raubte eine riesige, dunkel vermummte Gestalt Aurian die Sicht. Sie ragte hoch über ihr auf bis in den Himmel hinein, so schien es. »Aaaa«, sagte die Gestalt mit einer Stimme, so tief und trocken wie das raschelnde Wispern von Blättern auf einem mitternächtlichen Friedhof – wie Würmer, die sich bis in die tiefsten Tiefen ihrer Seele hineinfraßen. »Aaaa – du willst mich also wieder einmal betrügen?«

Aurian schluckte und nahm ihren ganzen Mut zusammen, um ihm zu antworten, um dem Tod selbst zu trotzen. Und von irgendwoher kam der Mut. »Wenn es denn so ist«, erwiderte sie. »Du hast schon genug genommen von mir und den meinen. Such deine Opfer anderswo!« Der Tod lachte, und es war wie die Klinge, die in Aurians Rückgrat gerammt wurde.

»Eine Närrin bist du, zu glauben, die Dinge seien so einfach. Und doch hast du in deiner Unwissenheit die einzige Münze geworfen, die es dir gestattet, mit mir zu handeln. Viele vor dir haben schon einen solchen Handel versucht, aber ich warne dich, mein Preis ist hoch – und ihr beide werdet ihn bezahlen, bevor wir uns wiedersehen!« Die Geistererscheinung ragte drohend vor ihr auf. Aurian biß sich auf die Lippen und stellte sich auf die Beine, um nicht vor der überwältigenden Gegenwart des Todes zurückzuschrecken.

»Du hast Mut, Lady.« Diesmal schwang ein Unterton von Respekt in seiner Stimme mit. »Und trotz meines weitverbreiteten schlechten Rufes glaube nie, der Tod sei gnadenlos. Weit gefehlt. Wenn deine Münze – die Münze, die ihr beide, du und dieser Mann besitzt – echt ist und keine Fälschung, dann mögt ihr immer noch das Beste aus unserem Handel herausschlagen. Erinnere dich daran, wenn es soweit ist, daß du meinen Preis bezahlen mußt!«

Die Gestalt verschwand in einem blendenden Aufblitzen roten Lichtes. Die plötzlich frei gewordene Kraft der Armreifen lief durch Aurian hindurch – durch Bohan, den sie zurückschleuderte, und dann durch Anvar. Aurian spürte, wie ihre Seele ausströmte, um der Seele ihres Begleiters zu begegnen – um sie sicher zu umfassen und ihn wieder heimzubringen.

Die Magusch blinzelte und war einen Augenblick verblüfft darüber, sich im Schmutz des Sklavenlagers wiederzufinden. Dann sah sie, daß ihre Handgelenke nackt waren. Die Armreifen waren zu einer feinen, pudrigen Asche zerfallen, die sich bereits vor ihren Augen zerstreute.

Anvar rührte sich unter ihren Händen, und seine leuchtendblauen Augen öffneten sich, um ihrem Blick zu begegnen. Alle Spuren seiner Verletzungen waren verschwunden. Erst später wurde Aurian klar, daß sie bei dieser Gelegenheit auch ihre eigenen Verletzungen geheilt hatte, aber in diesem Augenblick war sie einfach nur von Erleichterung erfüllt, von Erleichterung und Dankbarkeit und dem Staunen über das Wunder, das ihr unbeugsamer Wille zustande gebracht hatte.

»Aurian?« Anvars Stimme war kaum ein Flüstern in seiner ausgedörrten Kehle.

»Ich bin hier.« Die Magusch vermochte es kaum, ihre eigene Stimme wiederzufinden. Bohan stand hinter ihr und bot ihr eine Tasse Wasser an, aber Aurians Hände zitterten zu sehr, um sie anzunehmen, und sie fürchtete sich, Anvar loszulassen, aus Angst, ihn auf diese Weise wieder zu verlieren. Statt dessen stützte sie ihn, während der Eunuch ihm die Tasse an die Lippen führte.

»Hexe! Du hast uns alle betrogen!« Das Sonnenlicht war wie ausgeblendet, als Harihns Schatten auf die kleine Gruppe auf dem Boden fiel. Seine Augen waren weit aufgerissen vor Entsetzen und auf Aurians Handgelenke gerichtet, wo vor kurzem noch die Armreifen von Zathbar gewesen waren.

»Harihn …« begann Aurian eindringlich, aber der Prinz hatte sein juwelenbesetztes Schwert bereits mit einem Ruck aus seiner Scheide gezogen. Sie versuchte, aufzuspringen, wurde aber von Anvar daran gehindert, der die Gefahr erkannt hatte und trotz seiner geringen Kräfte aufzustehen versuchte, gerade als die Klinge nach unten schwang.

Bohan bewegte sich mit einer Schnelligkeit, die seine gewaltige Größe Lügen strafte, und warf sich zwischen die Magusch und Harihns Klinge. Er hatte dabei sein eigenes kurzes Schwert gezogen. Metall klirrte gegen Metall, und Funken regneten auf Aurian und Anvar herab, als er den Schlag des Prinzen abwehrte. Harihns Handgelenk wurde von dem gewaltigen Schwung des Schlages nach unten gerissen, und Bohans linke Hand schoß nach vorn, um es zu ergreifen; er schloß seine Hand fester und fester um das schmale Handgelenk des Prinzen, bis dieser mit einem Schmerzensschrei seine Waffe fallen ließ. Aurian sah, wie sich seine Brust mit einem tiefen Atemzug füllte, als er sich darauf vorbereitete, nach seinen Wachen zu rufen.

»Halt!« Ihre Stimme war wie ein Peitschenschlag. Aus ihrer knienden Position heraus sprach sie den Prinzen leise und mit sich überschlagenden Worten an. »Wenn Ihr mich tötet, wird Xiang die Armreifen zurückhaben wollen. Was wollt Ihr ihm sagen? Ihr könnt sie nicht zurückgeben – sie sind weg. Auf eine solche Chance hat er doch nur gewartet. Er wird behaupten, Ihr hättet sie mir abgenommen. Und vergeßt nicht, er hat jetzt eine neue Khisihn – und damit eine Chance auf weitere Erben. Nichts würde ihm besser gefallen, als Euch lebendig zu häuten. Denkt darüber nach.« Harihn erbleichte, als ihre Worte sein Dilemma so unumwunden offenlegten. Aurian nutzte ihren Vorteil. »Wir sind bereit, zu gehen, nicht wahr?«

Er nickte.

»Gut. Dann sollten wir zusehen, daß wir hier wegkommen, bevor irgend jemand bemerkt, was passiert ist. Auf dem Weg zurück zum Palast können wir uns etwas ausdenken.«

»Der Arzt hat es gesehen.« Harihn stieß diese Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Er kam schnatternd zu mir gerannt mit irgendeiner Geschichte über Zauberei. Das müssen auch andere gehört haben.«

Aurian runzelte die Stirn. »Richtig. Schafft irgend etwas herbei, womit wir Anvar einwickeln können, so daß niemand sehen kann, daß er geheilt wurde. Bohan wird ihn zum Boot tragen, und Ihr könnt mich tragen. Ich werde meine Handgelenke mit den Ärmeln bedecken, so daß niemand sehen kann, daß die Armreifen verschwunden sind. Und wenn wir wieder auf der Barkasse sind, werdet Ihr den Arzt für seine Lügen verfluchen – Ihr müßt richtig wütend auf ihn sein.«