»Ich denke, das wird mir gelingen«, murmelte Harihn grimmig.
»Ihr müßt nur sicherstellen, daß niemand glaubt, was wirklich passiert ist, und uns so schnell wie möglich hier herausbringen. Ihr könnt ja dem Arzt später ein Bestechungsgeld oder so etwas anbieten. In Ordnung?«
Harihn machte ein finsteres Gesicht. »Na schön – für den Augenblick wollen wir die Sache auf sich beruhen lassen. Aber wir sind noch nicht miteinander fertig, Lady.«
»Einverstanden«, sagte Aurian friedlich. »Das wichtigste ist, daß wir jetzt hier wegkommen.«
Bohan holte eine große Decke aus dem Lager der Handwerker und trug Anvar zur Barkasse hinunter, während der Prinz mit Aurian folgte. Er trug sie sehr steif und mit abgewandtem Gesicht, während er vor Zorn die Zähne zusammenbiß. Als er sie sicher auf dem Schiff abgesetzt hatte, sah Aurian entsetzt zu, wie er seine Scharade mit dem unglücklichen Arzt aufführte, der voller Angst zurückwich in das hinterste Ende der Landungsbrücke, während sein Prinz ihn mit flammendem Zorn beschimpfte. Seine Schreie hallten in Aurians Ohren wider, als Harihn einem in der Nähe stehenden Aufseher die Peitsche entriß und ihm damit quer über Gesicht und Schultern drosch, wobei er jeden einzelnen Schlag mit Beschimpfungen unterstrich, die laut genug waren, daß jeder sie hören konnte. »Lügner! Narr! Wie kannst du es wagen, mit einem solchen Märchen zu deinem Prinzen zu kommen!« Der Arzt fiel wimmernd aufs Gesicht. Der Prinz warf die Peitsche weg und ging auf den armen Mann zu. Aurian keuchte vor Entsetzen, als er den Arzt hochhob und in den Fluß schleuderte. Wie von Zauberhand waren plötzlich ganze Horden riesiger, scharfzahniger Eidechsen da, die sich von überall her auf ihr hilfloses, um sich schlagendes Opfer stürzten. Der letzte verzweifelte Aufschrei des Arztes ging in einem wirbelnden Mahlstrom aus Schwänzen und Zähnen unter, bevor er endgültig in Stücke gerissen wurde. Dann gab es plötzlich nur noch Stille und einen riesigen roten Flecken, der sich im Wasser ausbreitete.
Harihn sprang mit versteinertem Gesicht auf die Barkasse und gab den Ruderern das Signal, abzustoßen. Die schockierten Zuschauer wagten es nicht, auch nur den geringsten Laut von sich zu geben, während die Stimme des Prinzen noch über das Wasser scholl. »So sollen alle umkommen, die ihren Prinzen belügen. Vergeßt das nicht!«
Aurian, die bis ins Mark erschüttert war, wandte sich von dem Gemetzel ab und bettete Anvar bequem auf die Kissen, nachdem sie ihm die Decke vom Gesicht gezogen hatte.
»Ist mit dir alles in Ordnung?« flüsterte er. Aurian nickte im stillen belustigt über die Ironie, daß er ihr eine solche Frage stellte. Sie tätschelte ihm sanft den Arm.
»Ruh dich aus. Ich bin gleich wieder da.« Sie wandte sich an Bohan. »Kümmere dich bitte um ihn.« Der Eunuch nickte, und sie griff nach seiner Hand. »Bohan, ich kann dir nicht genug für deine Hilfe heute danken. Ich werde für alle Zeiten in deiner Schuld stehen.«
Der große Mann lächelte und schüttelte den Kopf.
»O doch«, korrigierte ihn die Magusch mit fester Stimme. »Und irgendwie werde ich auch einen Weg finden, meine Schuld zu begleichen, mein Freund.«
Dann machte Aurian sich auf den Weg zum Bug des Schiffes, wo der Prinz saß und blicklos in den schlammigen Fluß starrte. »Ich hoffe, Ihr seid stolz auf Euch«, zischte sie. »Wie könnt Ihr ein solch monströses Verhaken rechtfertigen?«
Harihn wirbelte herum, um sie anzusehen, und auf seinem Gesicht zeigten sich Elend und Abscheu. In seinen Augen glitzerten unvergossene Tränen. »Der Mann war Arzt!« schleuderte er ihr entgegen. »Er glaubte, ein Wunder gesehen zu haben! Wie konnte er der Versuchung widerstehen, anderen davon zu erzählen und dabei deine Missetat zu entblößen? Der Sklave lag im Sterben – ja, er war sogar, um genau zu sein, bereits tot. Dein Vorgehen war gegen jede Natur.«
Seine Stimme erstarrte vor Bitterkeit. »Hast du nicht daran gedacht, daß du einen Preis dafür würdest zahlen müssen? Ein fairer Handel, oder? Ein Leben für ein Leben – mein Diener im Tausch gegen deinen Mann. Du hast mit deiner Tat den Arzt ums Leben gebracht, Aurian. Ich war lediglich das Werkzeug. Du kannst nur hoffen, daß es hier endet – denn der Schnitten fordert vielleicht einen höheren Preis für die Seele, die du ihm entrissen hast!«
»Abergläubischer Unsinn!« fuhr Aurian ihn an, denn seine Worte hatten sie nervös gemacht. Sie schien sich an etwas zu erinnern – etwas mit einem Preis und einer echten Münze – aber es entzog sich ihr. Der Tod hatte seine Worte bereits aus ihren Gedanken gestrichen. »Ich habe lediglich in bestem Glauben gehandelt, um ein Leben zu retten«, protestierte sie.
»Und wie viele Leben werden in Zukunft vielleicht verlorengehen, weil ihnen die Fähigkeiten des Arztes verwehrt bleiben?« Harihns Stimme hatte einen hysterischen, hohen Klang angenommen. »Welchen Trost wird seine Familie wohl von deinem guten Glauben schöpfen? Und wenn mein Vater mich bei lebendigem Leibe häuten läßt, weil ich eine fremdländische Hexe auf sein Volk losgelassen habe, was wirst du dann –«
Genug! Aurian sprang auf die Beine, und die Barkasse geriet ins Schwanken. Ihre Stimme zitterte. »Na schön. Der Fehler liegt also bei mir. Ich nehme die Verantwortung auf mich, aber Euer Gesetz war es, das mir diese verfluchten Armreifen angelegt hat, und dasselbe Gesetz brandmarkt mich als Verbrecherin, weil ich meine Kraft benutzt habe, um ein Leben zu retten. Und es verdammt Euch, weil ich es getan habe, während ich in Eurer Obhut stand. Stünde ich noch einmal vor dieser Entscheidung, würde ich dasselbe wieder tun – nicht nur für Anvar, sondern auch für Euch oder für jeden anderen, der mir am Herzen liegt!«
Sie setzte sich wieder neben ihn, und ihre Stimme wurde weicher. »Es tut mir leid, Harihn, daß ich Euch in solche Schwierigkeiten gebracht habe. Das ist eine traurige Art und Weise, Euch all das zurückzuzahlen, was Ihr für mich getan habt, und ich werde versuchen, mir eine Möglichkeit auszudenken, um Euch vor den Konsequenzen zu bewahren. Aber könnt Ihr nicht sehen, daß ich keine andere Wahl hatte?«
Harihn ließ seinen Blick von ihr los. »Lady, ich habe Angst vor dir«, sagte er offen. »Du sagst, daß du dasselbe noch einmal tun würdest, wenn es notwendig wäre – aber ich muß dir ehrlich sagen, stündest du noch einmal vor mir in der Arena, würde ich keinen Finger heben, um dich zu retten, jetzt, da ich die Konsequenzen meines Handelns kenne.«
Aurian versuchte verzweifelt, sich etwas auszudenken, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. »Ihr sprecht von Konsequenzen, aber bisher ist der Faden noch nicht aufgewickelt und die Geschichte unsere Lebens noch nicht zu Ende. Ich hoffe, daß Ihr es am Ende nicht bereuen werdet, mein Leben gerettet zu haben, Harihn. Es mag sein, daß ich Euch helfen kann, jetzt, da ich wieder Herrin über meine Kräfte bin.«
Harihn zuckte zusammen. »Nein!« rief er. »Führe mich nicht mit diesem Übel in Versuchung. Ich würde niemals mit solchen Mitteln die Macht erlangen wollen.«
»Jetzt sehr Ihr, welch eine Ehrfurcht gebietende Verantwortung auf dem Maguschvolk lastet«, sagte Aurian. »Eine solche Macht ist eine ständige Versuchung – und eine ständige Last. Denkt nur an die vielen Toten, wenn ich Euch in einer Revolution unterstützen würde. Denkt an die Toten, die ich dann auf dem Gewissen hätte. Aber wenn ich meine Kraft benutze, um ein Leben zu retten – ich kann einfach nicht glauben, daß das ein Vergehen sein soll.«
Harihn seufzte. »Ich denke, ich verstehe dich – ein wenig. Lady, laß mich für eine Weile allein; geh und kümmere dich um deinen Ehemann. Ich habe vieles, worüber ich nachdenken muß – und vieles zu bereuen.«
Ihr Gespräch hatte beinahe die ganze Reise über gedauert. Aurian war überrascht, daß sie schon wieder in der Stadt waren und in der Ferne bereits die reichverzierten Konturen des prinzlichen Bootshauses ausmachen konnten. Aber es tat ihr nicht leid um die Zeit, die sie gebraucht hatte, um eine Art von Verständnis mit Harihn zu erzielen. Seine Furcht vor der Zauberei war die Furcht seines ganzen Volkes, und sie war in gewisser Weise berechtigt, dachte sie, während sie sich mit einem Schaudern an die Nihilim erinnerte, die Miathan losgelassen hatte, und an die schreckliche Wildheit von Eliseths Unwetter. Diese beiden hatten ihre Seelen für Macht verkauft, und bei dem Gedanken daran wurde ihr übel. Würde sie schließlich auch so enden? Nein, niemals, schwor Aurian sich. Aber jetzt wollte sie nicht länger darüber nachdenken, sondern ging nach vorn aufs Achterdeck, um nach Anvar zu sehen.