Er schlief, aber seine Augen öffneten sich, als sie zu ihm trat, als hätte er irgendwie ihre Nähe gespürt. Vielleicht tat er das auch. Als sie Anvar dem Tod entrissen hatte, hatten sich ihre Seelen für einen Augenblick berührt. Wer sonst könnte von sich sagen, daß er eine solche Nähe mit einem anderen Wesen geteilt hatte? Und doch stellte Aurian fest, daß es ihr widerstrebte, ihn anzusprechen. Sie fühlte sich schuldig, weil sie ihn einem solchen Leiden überlassen hatte. Wie konnte sie ihm jetzt noch ins Gesicht sehen? Er mußte sie doch hassen, oder? Aber während sie noch zögerte, griff er nach ihrer Hand und hielt sie mit überraschender Stärke fest, als wäre sie immer noch sein einziger Anker im Leben. »Ich dachte, du würdest nicht mehr kommen«, flüsterte er. »Ich hätte beinahe aufgegeben. Es tut mir leid, Aurian. Ich hätte es besser wissen müssen.«
Aurian sah ihn mit Tränen in den Augen an. Ihm tat es leid? »Oh, Anvar«, murmelte sie. »Wie kannst du mir je vergeben?«
»Du bist gekommen«, sagte er. »Du bist immer da, wenn es darauf ankommt. Warum habe ich nur so lange gebraucht, das zu begreifen?«
Aurian war vollkommen sprachlos. »Du wärst diesmal beinahe gestorben wegen meines heftigen Temperaments«, beharrte sie. »Ich hätte dich niemals so im Stich lassen dürfen. Du kannst mich schlagen, wenn es dir dann besser geht – ich habe es verdient.«
»Nein.« Der sture Ausdruck auf Anvars Gesicht war ein Spiegelbild ihres eigenen.
»Dann werde ich es selbst tun!« Sie schlug sich scherzhaft selbst auf den Kiefer, kippte hinten über, und er lachte. O Dank den Göttern, daß es ihm wieder gutgeht; sie war gerade noch rechtzeitig gekommen. Im Überschwang der Erleichterung umarmte sie ihn und spürte, wie seine Anne sich um ihre Schultern schlössen.
»Hast du Sara gefunden?« Seine Worte waren wie ein Guß eiskalten Wassers. Aurian löste sich stirnrunzelnd aus seiner Umarmung. Immer Sara! Und wie um alles in der Welt sollte sie ihm erklären, daß Sara ihn hintergangen hatte – daß sie ihn für einen König im Stich gelassen und nicht einen Finger krumm gemacht hatte, um ihn zu finden, geschweige denn, ihm zu helfen. Es würde ihn zerbrechen. Sie mußte angesichts der Hoffnung in seinen Augen ihren Blick abwenden.
»Sara geht es gut«, sagte sie ausweichend. »Sie ist besser aus dieser Sache herausgekommen als irgend jemand sonst von uns.«
Zu ihrer ungeheuren Erleichterung stieß in diesem Augenblick die Barkasse an Harihns Kaimauer. »Wir sind da!« sagte sie energisch. »Und jetzt wollen wir zusehen, daß wir dich hineinschaffen, damit wir dich waschen und füttern können. Bohan – der riesige Bursche da hinten – wird sich um dich kümmern. Keine Angst, du kannst ihm vertrauen. Wenn du dich ausgeruht hast, werde ich dir alles erzählen, was passiert ist.« Mit diesen Worten bedeutete sie Bohan, Anvar schnell hinauf in ihre Räume zu tragen, und machte sich dann eilig davon, bevor er Zeit hatte, ihr noch weitere peinliche Fragen zu stellen.
Anvar lag im Bett und sah zu, wie die leichte Brise den duftigen, hauchzarten Baldachin bewegte, der ihn vor Insekten schützen sollte. Seidenlaken streiften kühl und luxuriös über seine frisch gebadete Haut. Diesmal hatte seine Heilung aus irgendeinem Grund nicht ihre gewohnte entkräftende Wirkung, und er fühlte sich wach und geradezu kribbelnd lebendig – und unbeschreiblich hungrig. Nicht weiter überraschend, überlegte er, und tastete mit knochigen Fingern seine hervorstehenden Rippen ab. Sein Körper spannte sich, als er sich an das Entsetzen des Sklavenlagers erinnerte, und seine Hände flogen automatisch zu dem unnachgiebigen, eisernen Halsband, dem Zeichen der Sklaverei, das noch nicht entfernt worden war. Nein! sagte er sich fest. Er durfte nicht daran denken. Das alles war jetzt vorüber. Aurian war zu ihm gekommen, so wie er es in seinen Gebeten erfleht hatte. Sie hatte ihn wieder einmal gerettet. Anvar erinnerte sich an seine erste Begegnung mit der Magusch, als er aus den Küchen der Akademie entflohen war. Er war in einem Raum der Garnison erwacht, zwischen sauberen Laken und mit geheilten Wunden, und das erste, was er gesehen hatte, war ihr Lächeln gewesen. Damals hatte er ihr nicht vertraut – aber diesmal weiß ich es besser, versprach er sich. Er würde ihr ihre Güte zurückzahlen, indem er sich um sie kümmerte, zumindest bis ihr Kind geboren war. Die Götter allein wußten, wie sehr sie ihn brauchte, obwohl es ihm sicher schwerfallen würde, sie davon zu überzeugen. Sie war so entsetzlich stur und unabhängig! Er mußte einfach dafür sorgen, daß sie es verstand – und Sara mußte es auch verstehen, dachte er schuldbewußt. Wie konnte er die beiden nur versöhnen? Sara würde es niemals dulden, wenn er sich um die Magusch kümmerte.
»Das ist ihr Problem!« Anvar, der laut gesprochen hatte, war überrascht über seine eigene Entschlossenheit – und über seine Schlußfolgerungen. Aber während er in den Kellern unter dem Sklavenmarkt gefangengehalten worden war, hatte er langsam die Wahrheit begriffen. Sara, die Liebe seiner Kindheit, riß an seinem Herzen. Wie konnte es auch anders sein? Aber sie war kein unschuldiges Mädchen mehr. Sie war härter geworden. In ihrem Wesen lag jetzt etwas Berechnendes – etwas Verdorbenes, dem er nicht zu trauen wagte. Es hatte dieser kurzen Zeit nach ihrem Schiffbruch bedurft, in der er mit ihr allein gewesen war, um ihm das klarzumachen. Aurians Abwesenheit hatte eine Leere in ihm hinterlassen, als wäre ein Teil von ihm selbst gegangen. O ihr Götter, wie sehr er sie vermißt hatte! Und welches Glück er empfunden hatte, sie wiederzusehen! Der Gedanke an die Magusch hatte ihm Mut gegeben – hatte ihm in all dem Entsetzen und all der Qual immer Hoffnung gegeben. Er hatte gewußt, daß sie kommen würde. Es war Aurian, der er vertraute. Nicht Sara. Aurian.
Aber du liebst Sara, protestierte ein Teil von Anvars Verstand, und er wußte, daß das stimmte. Aber liebte er das, was sie jetzt war – oder das, was sie einst gewesen war? Und liebte er Aurian? Sie war ihm eine Freundin, eine treue Begleiterin, aber … Könnte ich eine Magusch lieben? fragte er sich. O ihr Götter, ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Aber ich weiß, wen ich lieber bei mir hätte, wenn ich in der Klemme sitze!
Anvar hörte, wie sich die Tür öffnete, und das Poltern eines Tabletts, das abgestellt wurde. Jemand bewegte sich auf der anderen Seite des Gazevorhangs, der sein Bett umhüllte. Es mußte der schweigsame Bohan sein, der ihm etwas zu essen brachte. Aber zu einer Überraschung war es Aurian, die die Vorhänge zur Seite schob. Anvar lächelte, und selbst nach einer Stunde der Trennung freute er sich, sie wiederzusehen.
»Wie geht es dir?« fragte sie. Er dachte, daß sie besorgt aussah. Fühlte sie sich immer noch schuldig wegen seines Leidens im Sklavenlager?
»Mir geht es gut«, beeilte er sich, ihr zu versichern. »Um genau zu sein, könnte ich eigentlich ohne weiteres aufstehen – nur, daß dein Freund Bohan mich hierher verfrachtet und dafür gesorgt hat, daß ich liegenbleibe.«
Aurian zog ein komisches Gesicht. »Das hat er mit mir auch gemacht«, erzählte sie ihm mitleidig. »Manchmal ist er ein wenig übereifrig. Hier, ich habe dir etwas zu essen mitgebracht.« Sie stellte das Tablett auf sein Bett, griff jedoch ein, als er die Hand ausstreckte. »Ich weiß, daß du ausgehungert bist, aber iß trotzdem langsam«, warnte sie ihn. »Wir wollen doch nicht, daß dir auch noch übel wird.«