Reichtum und Macht der Stadt Nexis lagen in der Hand der reichen Kaufleute, der hochrangigen Krieger der Garnison und des hochmütigen Geschlechts der Magusch. Für das gemeine Volk war das Leben viel schwerer, für die Handwerker und Schneider, die Diener, Arbeiter, die Ladenbesitzer, Kahnführer und die Lampenanzünder, die das Leben der Stadt mit ihren niedrigen, aber wichtigen Arbeiten in Gang hielten. Die Kinder lernten in frühen Jahren notgedrungen, Verantwortung zu übernehmen, und Anvars Vater, ein Bäckermeister aus der Stadt, hatte seinem ältesten Sohn, sobald er alt genug war, den Karren zu fahren, die Aufgabe übertragen, das Mehl zu holen. Obwohl der Weg über die Straße länger dauerte und besonders im Winter sehr beschwerlich war, sparte man auf diese Weise doch die enormen Frachtzölle, die am Fluß erhoben wurden.
Seit seiner ersten Fahrt zur Mühle vor langer Zeit war die hellhaarige, elfenhafte, kleine Sara seine beste Freundin gewesen. Als sie noch jünger waren, stahlen sie sich nachmittags heimlich fort, um miteinander zu spielen. Dann trafen sie sich irgendwo auf dem schmalen Treidelpfad, der flußabwärts in die Stadt führte. Jetzt, da sie das ungeheure Alter von fünfzehn erreicht hatten, hatten ihre Spiele jedoch eine neue und ernste Wendung genommen. Anvar war verliebt, und er hatte keine Zweifel daran, daß Sara ebenso empfand. Beide Elternpaare ließen die beiden jungen Leute gewähren. Torl, Anvars Vater, und Jard, der Müller, sahen beide einen Vorteil darin, die beiden Geschäfte eines Tages zusammenzulegen, und die Mütter hatten j bei dieser Angelegenheit natürlich nichts zu sagen.
Anvar lächelte, und er dachte immer noch an Sara, als er oben auf dem Hügel angekommen war und den knarrenden Wagen auf die Hauptstraße lenkte. Nexis lag hinter einem eisigen Nebel verborgen, der grau und undurchdringlich unter ihm über dem bewaldeten Tal waberte. Nur die schimmernden, weißen Türme und die Kuppel der Akademie, die hoch oben auf ihrem steinigen Felsvorsprung über dem Rest der Stadt thronte, hoben sich aus dem Nebel heraus. Anvars Lächeln verwandelte sich bei diesem Anblick in ein finsteres Stirnrunzeln. Da oben schliefen sie sicher noch, dachte er. Schnarchten auf mit Schwanendaunen gefüllten Matratzen, während ehrliche Leute schon vor Tagesanbruch aufstanden, um ihren Arbeiten nachzugehen! Sein Vater hatte nichts übrig für das Maguschvolk; arrogante Parasiten waren sie seiner Meinung nach und eine Beleidigung für jeden anständigen Menschen. Das war eine in Anvars Nachbarschaft geläufige Betrachtungsweise, die er niemals in Frage gestellt hatte, obwohl ihm aufgefallen war, daß die Männer in den Schankstuben nur mit gedämpften Stimmen darüber sprachen und sich nervös über die Schulter sahen, wenn es um die Magusch ging.
Plötzlich gelangten Anvars Tagträumereien zu einem jähen Ende, als das alte Pferd scheute und bei dem Klang fremder Hufschläge die Ohren anlegte. Jemand kam hinter ihm den Hügel herauf, und dieser Jemand galoppierte gefährlich schnell über den vereisten Weg. Er seufzte und lenkte den Karren vorsichtshalber zur Seite. Wahrscheinlich war es ein Kurier, der zur Garnison wollte, zur Akademie oder zum Viertel der Kaufleute, und Anvar wußte es besser, als den Geschäften Höhergestellter im Weg zu sein.
Das Pferd war am Ende seiner Kräfte. Als es vorübergaloppierte, konnte Anvar das Pfeifen seiner gequälten Lungen trotz des Hufgedonners hören. Er sah auch kurz die schweißüberströmten, blutbefleckten Flanken des Tieres, als es an ihm vorbeistob, und hörte, wie der stämmige Reiter das Pferd verfluchte, während er mit den Zügeln auf das Tier eindrosch. Dieses Schwein! Anvar kochte innerlich, erzürnt über diese grausame Behandlung. Er drängte sein eigenes Pferd mit sanfter Hand voran, als könne er durch seine Freundlichkeit irgendwie wieder wettmachen, was er gerade beobachtet hatte. Dann hörte er, wie der Hufschlag, der sich bereits entfernt hatte, jäh aussetzte. Mit einem grausig dumpfen Dröhnen stürzte das Pferd zu Boden; dann setzte ein Schwall wilder Flüche ein.
Anvar kam mit seinem Karren um die Kurve und sah die düstere Masse des toten Pferdes am Straßenrand liegen. Der Junge kochte immer noch vor Wut. Der große Kerl, der das Pferd geritten hatte, stand nun darübergebeugt, vollkommen unversehrt, aber offensichtlich so außer sich, daß er die Luft mit seinen Verwünschungen versengte. Anvar konnte vor Zorn kaum an sich halten. Ohne die Konsequenzen seines Tuns zu bedenken, sprang er vom Wagen und stürzte sich auf den großen, bärtigen Reiter. »Bastard!« schrie er. »Du bist ein niederträchtiger Bastard!« Der Mann ignorierte ihn vollkommen, bis sein Blick plötzlich auf die Karre fiel. Dann fegte er Anvar mit beiläufiger, verächtlicher Stärke aus dem Weg, lief zu Lazy hinüber und zog einen Dolch aus dem Gürtel, um dem alten Pferd die Zugriemen abzuschneiden.
Anvar zog sich mühsam aus dem Straßengraben heraus, entsetzt über das Ergebnis seiner Torheit. »Nein!« schrie er und stürzte sich abermals auf den wahnsinnigen Reiter. Ein heftiger Schlag schleuderte ihn zu Boden. Der große Mann warf nun auch den Rest des Geschirrs zu Boden, schnitt die herabhängenden Enden der langen Zügel ab und sprang rittlings auf den bloßen Rücken des Pferdes. Lazy scheute und rollte mit den Augen, aber der Mann brachte das alte Pferd mit einem heftigen Ruck an den Zügeln unter seine Kontrolle. Anvar kam mit Tränen in den Augen wieder hoch und zog verzweifelt an dem schmutzigen Umhang des Reiters. »Bitte, Herr«, bat er, »er ist schon alt. Du kannst ihn nicht …«
Der Fremde drehte sich zu ihm um und warf ihm einen Blick zu, als sähe er ihn zum ersten Mal. Sein grimmiger Gesichtsausdruck wurde plötzlich weich und spiegelte Mitleid und Bedauern wider. »Es tut mir wirklich leid, Junge«, sagte er freundlich, »aber es ist ein Notfall. Das Leben eines jungen Mädchens steht auf dem Spiel, und ich muß zur Heilerin. Versuch, es zu verstehen. Ich werde dein Pferd in der Akademie zurücklassen. Sag den Leuten dort, Forral hätte dich geschickt.« Dann legte er für einen Augenblick seine Hand auf Anvars Schulter und war auch schon unter lautem Hufgeklapper auf und davon. Anvar starrte ihm noch lange nach, dann machte er sich daran, über den verlassenen Karren mit seiner kostbaren Fracht nachzudenken. Das Mehl würde an diesem Morgen zu spät kommen, und Torl konnte nicht mit der Arbeit anfangen. Dadurch würden sie Geld verlieren, soviel stand fest. Anvar seufzte und machte sich auf den Weg zurück zur Mühle, um sich dort ein Pferd zu leihen. Sein Vater würde fuchsteufelswild sein.
Anvars Familie lebte im Norden von Nexis, in dem dichtbevölkerten Labyrinth schmaler Straßen, die sich innerhalb der großen Stadtmauer auf dem höhergelegenen Teil des breiten Talhanges zusammendrängten. Weiter unten lagen die großen, steingepflasterten Durchgangsstraßen mit ihren prachtvollen, säulengestützten Bauten und herrlichen Märkten und Geschäften; ein kleines Stück abseits, auf einem Plateau, einer Abflachung des Hanges oberhalb eines steilen Absturzes, stand der große, graue, festungsartige Komplex der legendären Garnison. Im Flußtal selbst erstreckten sich am Nordufer die Viertel mit den Speichern und Lagerhäuser der Händler und allem anderen, was zum Hafenleben gehört: Ratten, Bettler, Taschendiebe und Huren. Elegante Brücken überwölbten den breiten Strom des Flusses an verschiedenen Stellen und verbanden die Arbeiterviertel im Norden der Stadt mit dem ganz anderen Milieu des Südufers.
Dort stieg das Tal in einer Staffel steiler, bewaldeter Terrassen scheinbar endlos an. Wie Juwelen glitzerten zwischen den Bäumen die luxuriösen Villen der Kaufleute mit ihren gepflegten Rasenstücken und den üppigen, blühenden Gärten, in denen an lauen Sommerabenden, wenn die Luft schwer vom Duft der vielen Blüten war, bunte Laternen brannten. Etwa auf der Hälfte seines Weges durch die Stadt beschrieb der Flußlauf eine nach Norden ausholende Schlinge, bevor er seinen Weg nach Westen, zum Meer hin, fortsetzte. Fast ganz vom Fluß umschlossen, erhob sich in dieser Schlinge ein gewaltiges Felsmassiv, beinahe eine Insel, die nur mit einer schmalen, von einem weißen Spitzbogentor versperrten Landenge mit dem Südufer verbunden war. Hoch oben auf dem Felsvorsprung, dem höchsten Punkt der Stadt, befanden sich die weiß glänzenden Türme der Akademie. Dort lebte das Maguschvolk in stolzer, selbstgewählter Abgeschiedenheit.