»Wie hast du … Lady, das ist verboten«, schallt sie eine strenge Stimme. Der Hauptmann der Garde, den sie an seinen Schulterinsignien erkannt hatte, stand vor ihr, und seine Augenbrauen waren zu einem mißbilligenden Stirnrunzeln zusammengezogen.
»Wenn ihr den Khisal retten wollt, haben wir keine Zeit, wählerisch zu sein«, sagte Aurian knapp und war von ganzem Herzen dankbar für die Art, wie er ihre Worte mit einem brüsken Nicken akzeptierte. Dann zog er den Schlüsselbund aus dem Schloß und schickte einen seiner Männer den Korridor hinab, um die anderen Zellen zu öffnen. Ein praktisch veranlagter Mann also. Wie sein Prinz schien er noch recht jung für seine Verantwortung zu sein. In dem langen, schwarzen, sorgfältig nach hinten gebundenen Haar zeigte sich keine Spur von Grau, aber seine Ernsthaftigkeit und der ehrliche, gerade Blick in seinen dunklen Augen versprach Aurian einen Quell von Mut und gesundem Menschenverstand. Sie hatte keine Zeit, noch weitere Einzelheiten zu vermerken, denn in diesem Augenblick kämpfte sich eine riesige Gestalt nach vorn, die die Soldaten mühelos mit den Ellenbogen zur Seite schob.
»Bohan! Dank den Göttern, daß mit dir alles in Ordnung ist.« Aurian stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu umarmen, und sah, wie sich ein erstauntes, aber erfreutes Lächeln auf Bohans Gesicht ausbreitete. Die Schwertschnitte auf seinem Körper und die Schrammen auf Armen und Beinen zeigten, daß er seine Freiheit teuer verkauft hatte, aber seine Kraft schien unverringert zu sein, als er ihre Umarmung mit knochenbrecherischer Stärke erwiderte.
»Da kommt jemand!« Shias warnender Gedanke hallte unüberhörbar in Aurians Kopf wider.
»Kümmere dich um ihn«, wies sie die Katze an. »Und bitte leise, wenn du kannst.«
»Mit Vergnügen!«
Einen kurzen Augenblick lang hörte man ein Schlurfen auf der anderen Seite des Durchgangs, dann war wieder alles ruhig. »Was war das?« erkundigte sich Yazour scharf.
»Der Dämon aus der Arena, der sich um eine von Xiangs Wachen gekümmert hat. Du solltest besser deine Männer warnen und ihnen erklären, daß sie auf unserer Seite ist.«
»Beim Schnitter!« murmelte Yazour mit weit aufgerissenen Augen.
Der Kampf im Wachraum war blutig, aber kurz. Aurian schickte zuerst Shia hinein, und die Katze wütete wie ein Wirbelwind aus Zähnen und Klauen unter Xiangs entsetzten Soldaten. Aurian folgte mit Yazour und seinen Männern, die sich schnell mit den Waffen der am Boden liegenden Leichen ausrüsteten. Dann bahnten sie sich ihren Weg durch die Flure des Palastes und strömten schließlich aus, um gnadenlos jeden Feind niederzumetzeln, der ihnen auf ihrem Weg entgegentrat. Es war lebenswichtig, daß niemand am Leben blieb, der Xiang warnen konnte. Schließlich erreichten sie die Hauptstockwerke und den langen Flur, der ins Audienzzimmer führte, wo sie auch herausfanden, warum sie bisher nur auf geringen Widerstand gestoßen waren. In dem Flur wimmelte es vor Wachen. »Xiang muß da drin sein«, flüsterte Yazour der Magusch ins Ohr, nachdem er einen kurzen Blick um die Ecke geworfen hatte.
»Und was jetzt? Da kommen wir niemals durch, ohne Alarm auszulösen«, stöhnte Aurian. Geschwächt wie sie war, war es kein Wunder, daß sie leicht zu entmutigen war. Das Blutvergießen der letzten Minuten hatte ihr übel zugesetzt, und der große, geschwungene Krummsäbel, mit dem sie sich bewaffnet hatte, erschien ihr schwierig und unhandlich nach den glatten, zweischneidigen Klingen, die man in ihrem eigenen Land bevorzugte. Es war keine Kleinigkeit, eine vollkommen neue Technik zu erlernen, wenn man gleichzeitig in Lebensgefahr war. Bohan zupfte nachdrücklich an ihrem Arm und zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Aurian runzelte die Stirn und versuchte, seine Gesten zu verstehen. »Du meinst, es gibt einen anderen Weg da rein?« fragte sie ihn. Der Stumme nickte energisch.
»Natürlich!« murmelte Yazour. »Die Küchen. Ein Flur führt von dort aus in das Audienzzimmer, damit man dort leichter das Essen servieren kann.«
Schnell schmiedeten sie ihre Pläne. Aurian sollte mit Bohan, Shia und einer kleinen Gruppe Soldaten von hinten kommen und das Zimmer stürmen. Yazour und seine Männer würden dann, sobald sie ihr Signal hörten, zu einem frontalen Angriff auf die Wachen vor der Tür übergehen. Aurian sammelte schnell ihre Leute um sich und machte sich mit Bohan an der Spitze auf den Weg.
In den Küchen wurden die zu Tode erschrockenen Diener von einem halben Dutzend Wachen des Khisu gefangengehalten. Wenn Aurian sich irgendwelche Hilfe von ihnen erhofft hatte, mußte sie sich diese Idee schnell aus dem Kopf schlagen. Sobald der Kampf begann, ergriffen die Diener die Gelegenheit zur Flucht, wobei sie die größtmögliche Entfernung zwischen sich und der großen, flammenhaarigen Kriegerin und ihrem wilden Dämon suchten. Da die Magusch ganz mit zwei Soldaten beschäftigt war, die sich alle Mühe gaben, sie in Stücke zu hacken, konnte sie nur hoffen, daß sie nicht in Richtung des Thronzimmers fliehen und ihren schönen Plan preisgeben würden. Keuchend ging sie rückwärts auf den Eingang zu und verteidigte sich mit dem sperrigen Krummsäbel, so gut sie es nur konnte. Dann tauchte hinter ihren Angreifern die hoch aufragende Gestalt Bohans auf, und eine große Hand schloß sich um jeden der beiden Hälse. Schließlich kam Shia dazu, um ihnen den Rest zu geben, und ihre Klauen arbeiten sich durch Fleisch und Eingeweide. »Das macht Spaß!« rief sie Aurian zu.
»Ich freue mich, daß du dich amüsierst«, erwiderte Aurian schwach, während sie eine kurze Pause machte – die sie dringend brauchte, um wieder zu Atem zu kommen. Um sie herum sah es aus wie auf einem Schlachtfeld, und das lächerliche hauchdünne Gewand, in das Harihn sie gehüllt hatte, war mit Blut durchweicht. Die Magusch verschaffte sich einen schnellen Überblick über die Leichen. Gut. Alle Feinde tot – und zwei von ihren eigenen Leuten, stellte sie traurig fest. Sie rief die übrigen Männer zusammen, und sie folgten Bohan durch den niedrigen Eingang, der in dem Schatten eines Alkovens im hinteren Teil der Küche verborgen war.
Am anderen Ende des Durchgangs gab es keine Tür – die Treppenflucht, die zum Thronraum führte, endete in einem Bogengang, der durch einen herabhängenden Vorhang von dem dahinterliegenden Raum abgetrennt war. Vorsichtig zog Aurian ihn beiseite, gerade weit genug, um durch einen schmalen Spalt hindurchzuspähen. Sie stand beinahe direkt hinter dem Thron und konnte Harihn ganz in der Nähe sehen, der von zwei Wachen festgehalten wurde und krank vor Angst zu sein schien. Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, daß man sie entdeckte, denn alle Augen waren auf den Platz vor Xiangs Füßen gerichtet. Dort kniete Anvar, gefesselt, die Augen fest verschlossen und sein Körper blutleer vor Entsetzen. Über ihm stand eine in Schwarz gehüllte Gestalt mit einem erhobenen Schwert.
»Jetzt!« schrie Aurian. Shia sprang an ihr vorbei und erreichte den Khisu mit einem einzigen Satz; ihr Gewicht preßte ihn zu Boden, und ihre machtvollen Kiefer schlössen sich um seine Kehle.
»Laßt eure Waffen fallen! Bei der geringsten Bewegung stirbt der Khisu!« rief Aurian. Sie hörte die Geräusche eines wilden Kampfes draußen vor der Tür, als Yazour und seine Männer zur Tat schritten, und winkte ihren eigenen Soldatentrupp herbei, um die am Boden liegenden Waffen von Xiangs Garde aufzuheben.
Obwohl sie viel lieber zu Anvar hinübergegangen wäre, stellte sie sich neben den Prinzen und verbeugte sich, wobei sie aus den Augenwinkeln Yazour bemerkte, der kurz in der Tür erschienen war, um ihr zu signalisieren, daß alles unter Kontrolle war. »Euer Hoheit«, sagte Aurian mit klarer Stimme. »Vor kurzem habt Ihr den Einsatz von Magie, um auf den Thron zu gelangen, abgelehnt. Nun biete ich Euch den Thron durch sterbliche Mittel an. Ihr braucht nur ein Wort zu sagen, und Ihr seid Khisu.«