Anvar riß sich von ihr los. »Bitte«, sagte er unglücklich, »laß mich allein.« Er wandte sich von ihr ab und barg sein Gesicht in seinen Händen. Aurian zog sich zurück, denn sie respektierte seine Gefühle. Als er Sara zurückgewiesen hatte, wäre sie beinahe geplatzt vor Stolz auf ihn, aber sie wußte, wieviel ihn seine Worte gekostet haben mußten. Sie setzte sich neben ihn auf den Boden und spürte nun auch, wie erschöpft sie selbst war.
Eine Hand fiel auf ihre Schulter. »Aurian!« Harihn stand über ihr, und sein Gesichtsausdruck war genauso kalt wie seine Stimme.
»Was?« seufzte sie und stand mit dem Gefühl, grausam miß^ braucht worden zu sein, wieder auf. In Anbetracht der Tatsache, daß sie gerade sein Leben gerettet hatte, schien er nicht gerade überwältigt von Dankbarkeit. Harihn hatte die Fäuste geballt, und sein Gesicht war dunkelrot vor Zorn.
»Du verlogenes Miststück. Dank deiner Machenschaften habe ich heute den Thron verloren. Du undankbare Schlange! Wie konntest du es wagen, mir einzureden, dieser niedrige Sklave sei dein Ehemann?«
Aurian keuchte. Wie hatte er das herausgefunden?
»Beim Schnitter, dafür wirst du leiden!« Harihn griff nach ihr, um sie zu packen, hatte schon eine Hand zum Schlag erhoben.
»Laßt sie in Ruhe!« Anvar trat zwischen sie. »Sie hat Euch nicht belogen, Euer Hoheit. Ich bin ihr Ehemann.«
»Was!« Harihn stockte. »Du meinst … Es ist die Wahrheit?«
Aurians Erstaunen war nicht geringer als das seine. In verwunderter Dankbarkeit suchte sie Anvars Blick. Er legte besitzergreifend einen Arm um ihre Schultern. »Natürlich stimmt es«, erklärte er dem Prinzen. »Sara hat alle belogen. Habt Ihr erwartet, sie würde Xiang erzählen, daß sie ihn betrogen hat? Außerdem hat Aurian Euch keineswegs den Thron gekostet – im Gegenteil, sie hat ihn Euch angeboten, und Ihr habt ihn abgelehnt! Ich glaube, Ihr schuldet meiner Lady eine Entschuldigung – und Euren Dank dafür, daß sie Euch das Leben gerettet hat.«
Der Prinz schien am Boden zerstört zu sein. »Ich – ich bitte um Entschuldigung«, murmelte er mit gesenktem Blick. »Ich hätte es wissen müssen. Die bloße Tatsache, daß du unsere Sprache sprichst so wie Sie … Heißt das, daß du auch ein Zauberer bist?«
Aurian keuchte. Es war soviel geschehen, daß sie keine Zeit gehabt hatte, sich über Anvars Fähigkeiten zu wundern. Aus den Augenwinkeln sah sie Anvar erbleichen. »Nein«, sagte er hastig, »und ich weiß auch nicht, warum ich Eure Sprache sprechen kann. Ich denke, die Lady hat mir das Talent zusammen mit dem Zauber weitergegeben, den sie benutzt hat, um mich dem Tod zu entreißen. Aber was werdet Ihr jetzt tun, Hoheit? Aurian mag Euren Vater für den Augenblick erschreckt haben, aber wir können nicht erwarten, daß das lange anhält!«
Aurian sah ihn neugierig an, aber er wich ihrem Blick gewissenhaft aus. Sie runzelte die Stirn. Warum hatte er so schnell das Thema gewechselt? Und doch … Anvar war kein Magusch! Die Erklärung, die er dem Prinzen gegeben hatte, mußte doch die einzig mögliche sein, oder?
Harihn sah sie an. »Wollt Ihr wirklich die Khazalim mit Eurem Fluch strafen, Zauberin?« stieß er hervor, und Furcht schwang in seinen Worten mit. »Ich habe dem Thron entsagt, aber es ist trotzdem immer noch mein Volk. Wenn – wenn mein Vater sich geweigert hätte, zuzustimmen, hättet Ihr diese Menschen getötet?«
»Bei den Göttern, nein!« sagte Aurian. »Ich wüßte nicht einmal, wo ich da anfangen sollte. Aber Xiang wußte das nicht.« Sie warf ihm ein böses Grinsen zu.
Der Prinz schien erstaunt zu sein, und plötzlich flutete Erleichterung über sein Gesicht. Er brach in Gelächter aus. »Wirklich, du … du bist absolut unmöglich!«
»Genau das sage ich auch immer zu ihr«, meinte Anvar schulterzuckend, »aber was soll ich tun?«
»Hör auf meinen Rat und schlag sie öfter. Sie hat eine Angewohnheit, die Kontrolle über die Dinge zu ergreifen, die einer Frau ausgesprochen schlecht zu Gesicht steht!«
»Ja, das scheint mir auch eine gute Idee zu sein«, knurrte Anvar und ignorierte Aurians empörten Blick. Sie war sogar noch wütender, als sie sah, daß der Prinz es vollkommen ernst meinte.
»Sehr gut«, sagte er. »Ich habe noch viel zu erledigen, wenn wir vor dem Einbruch der Nacht aufbrechen wollen. Ich glaube, daß ich nach Norden reisen Werde. Die Leute meiner Mutter werden mich vielleicht aufnehmen, falls es mir gelingt, durch das Land des Himmelsvolkes hindurchzukommen. Werdet ihr mit mir kommen oder nicht? Allein werdet ihr es nie schaffen, die Wüste zu durchqueren.«
»Ich denke, das paßt uns gut, nicht wahr, Liebes?« Anvar wandte sich an Aurian, und seine Augen glitzerten. Ihr war klar, daß er ihr die Lüge, die sie über ihn verbreitet hatte, heimzahlen wollte.
»Natürlich, mein Liebster«, erwiderte sie honigsüß, obwohl sie nur mit Mühe dem Drang, nach ihm zu treten, widerstehen konnte. Innerlich war sie jedoch erleichtert. Jetzt, da sie Anvar gefunden und ihre Kräfte wiedererlangt hatte, konnte sie es sich nicht leisten, länger in diesem Land zu verweilen. Aber sie brauchte Harihns Hilfe noch und war sich unbehaglich der Tatsache bewußt, daß sie ihre Schuld bei ihm noch nicht beglichen hatte.
Als Harihn gegangen war, wandte Aurian sich an Anvar. »Danke, daß du mich unterstützt hast.«
Er zuckte mit den Schultern. »Das war das mindeste, was ich tun konnte. Du mußt deine Gründe gehabt haben, warum du den Prinzen belogen hast.«
»Und ob ich die hatte. Harihn hatte beschlossen, mich zu seiner Konkubine zu machen, in Übereinstimmung mit den hiesigen Gesetzen für Frauen ohne Begleitung. Ich bin in der Arena schwer verwundet worden, und er hat mir das Leben gerettet. Ich war hilflos, meiner magischen Kräfte beraubt, und ich brauchte Harihns Unterstützung, um dich zu finden. Ich war gezwungen zu lügen. Er hat mir keine andere Wahl gelassen.«
Anvar machte ein finsteres Gesicht. »Du meinst … Ich kann es nicht glauben! Hat er – hat dieser Bastard …« Er bekam vor Zorn kaum noch Luft.
Aurian legte ihm eine Hand auf den Arm. »Nein«, sagte sie sanft. »Er hat mich nicht angerührt, nachdem ich ihm von dir erzählt hatte. Ich glaube allerdings nicht, daß es ihm gefallen hat.«
»Nun, er sollte sich besser daran gewöhnen, und zwar schnell!«
Aurian konnte nicht umhin, Anvars wilden Gesichtsausdruck zu belächeln. »Danke, Anvar«, sagte sie gerührt, »aber wir müssen vorsichtig sein. Um zurück nach Norden zu kommen, brauchen wir Harihns Hilfe zur Durchquerung der Wüste. Wir sind hoffnungslos in der Minderheit, wenn du an die Soldaten denkst, die hinter ihm stehen.«
»O ihr Götter, was für eine Situation, aber …« Plötzlich sah Anvar sehr krank aus. »Heißt das, daß Sara gezwungen war, sich – sich …«
»Anvar, es tut mir leid.« Um seinetwillen mußte sie jetzt mit brutaler Offenheit zu Werke gehen. »Du hast sie heute gesehen. Du hast gehört, was sie gesagt hat. Was Sara hier tut, ist ihre eigene Wahl. Ich habe Harihn benutzt, um dich zu finden – sie hätte dasselbe durch Xiang tun können, aber sie war zu sehr damit beschäftigt, ihre ehrgeizigen Pläne in die Tat umzusetzen. Und wenn sie heute ihren Willen durchgesetzt hätte, wärst du jetzt tot. Was für eine Frau würde das dem Mann antun, der sie liebt?«
Anvar schauderte, und sein Gesicht wurde hart und grimmig. »Ja, das ist es, was ich mir auch gedacht habe«, sagte er.
28
Flucht aus Taibeth
Während der Nachmittag voranschritt, verwandelte sich der Hof vor Harihns Palast in ein Bild reinsten Aufruhrs. Der ganze Haushalt machte sich zum Aufbruch bereit. Fässer und Wasserschläuche wurden aus den Kellern und den Nebengebäuden herbeigeschafft und zum Fluß heruntergerollt, wo man sie füllte, denn der Prinz würde die Wüste durchqueren. Andere Bedienstete rollten leichte Seidenzelte um ihre Pfosten zusammen und stapelten sie in einer Ecke auf, wo sie darauf warteten, auf die Maultiere geladen zu werden, die an einer Seite des Hofes in einer langen Reihe angepflockt waren. Außerdem wurden Nahrungsmittel für die Reise vorbereitet, zusammen mit dem Futter für die Pferde und Lasttiere. Soldaten der prinzlichen Wache liefen mit ihren Pferden auf dem Hof hin und her und trugen noch zu der allgemeinen Verwirrung bei.