»Drachen!« keuchte Aurian. »Hier gibt es Drachen?«
»Nur eine Legende«, erwiderte Yazour. »Es heißt, sie lebten in der Wüste, wo sie sich mühelos ernähren konnten. Du weißt doch, daß sie sich mit Sonnenlicht ernähren?«
»Was für eine Geschichte!« schnaubte Anvar. »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe, Yazour.«
»Bete darum, daß du niemals die Gelegenheit dazu bekommst«, erwiderte der junge Mann ernst. »Drachen sind angeblich sehr ungesellige und unberechenbare Geschöpfe. Sie geraten leicht in Zorn, und man läßt sie am besten in Ruhe.«
Sie ritten weiter durch die Nacht, zu müde, um zu sprechen. Aurian war erleichtert, als Yazour, nachdem er einen Blick auf den scheinbar unveränderten Horizont geworfen hatte, endlich den Vorschlag machte, daß sie anhalten und ihr Lager aufschlagen sollten. Sie war schwächer, als sie es je für möglich gehalten hätte. War es erst gestern früh gewesen, daß sie Anvar gefunden und ihn den Klauen des Todes entrissen hatte? Seither war soviel geschehen, und sie hatte anscheinend keinen Augenblick Ruhe gefunden. Als sie von ihrem Pferd stieg, spürte sie, wie ihre Knie unter ihr nachgeben, und war zutiefst dankbar, daß sie nichts zu tun hatte. Bohan war augenblicklich an ihrer Seite, um ihr ihr Pferd abzunehmen, und Harihns Soldaten stellten mit großer Geschwindigkeit und echtem Können die leichten Seidenzelte auf. Selbst die Pferde und die Maulesel wurden in ihre eigenen Schutzzelte gebracht, denn kein Lebewesen konnte während der Stunden des Tageslichtes draußen überleben.
In dem allgemeinen Tumult, den der Aufbau des Lagers mit sich brachte, verlor Aurian ihre Freunde aus den Augen – bis auf Shia, die ihr wie ein Schatten folgte. Nachdem sie ihre magere Ration an Essen und Wasser abgeholt hatte, machte sie sich auf die Suche nach Anvar. Sie fand ihn schließlich allein im Eingang eines kleinen Zeltes sitzend. Neben ihm lag ein Wasserschlauch, und er hatte sein Essen nicht angerührt, sondern starrte blind hinaus auf das von Fackeln erleuchtete Lager. Seine Mundwinkel waren heruntergezogen, und auf seinem düsteren Gesicht spiegelte sich Kummer. Aurian wollte sich gerade wegschleichen, weil sie Angst hatte, ihn zu stören, aber er wandte sich zu ihr um, denn er schien wieder einmal ihre Nähe gespürt zu haben.
»Weißt du«, sagte er, ohne sie anzusehen, »du hast kein einziges Mal gesagt: ›Ich hab’s dir ja gesagte«
»Ich würde mir eher die Zunge abbeißen!« protestierte Aurian. »Warum sollte ich deinen Schmerz noch vergrößern wollen?«
Anvar seufzte. »Nein, das würdest du natürlich niemals tun. Dafür bist du zu fair. Du hast mich, was Sara betrifft, gewarnt. Aber statt auf dich zu hören, habe ich dich weggeschickt. Und jetzt sieh, was passiert ist.«
»Anvar, ich hätte dich niemals im Stich lassen dürfen. Mein verwünschtes Temperament! Ich werde mir das nie verzeihen.«
»Nun, dann wären wir ja schon zu zweit«, sagte Anvar grimmig. »Warum habe ich nicht begriffen, wem von euch beiden ich trauen konnte? Ich habe während unseres Ritts durch die Wüste viel nachgedacht. Darüber, wie du Miathan meinetwegen in der Akademie getrotzt hast und wie freundlich du zu mir warst, als ich dein Diener war. Wie du am Sonnenwendmorgen hinaus in den Schnee gegangen bist, um mir eine Gitarre zu kaufen – und was habe ich getan?« Selbstverachtung lag in seiner lauter werdenden Stimme. »Ich habe gemeine Dinge zu dir gesagt – ich habe dich vertrieben –, weil ich Sara verteidigt habe. Und was hast du getan? Du hast mich im Sklavenlager vor dem Tod gerettet; du hast mich als deinen Ehemann ausgegeben, während sie mich nur tot wissen wollte, damit sie Königin sein konnte! O ihr Götter, ich bin ein solcher Narr, Aurian. Ein blinder, armseliger Narr!« Er zitterte vor Zorn.
Aurian schlang ihre Arme um ihn und tröstete ihn, wie er sie auf dem Gipfel der Klippen getröstet hatte. Er lehnte an ihrer Schulter, während sie über sein feines, strohblondes Haar strich.
»Weißt du, was ich tun würde, wenn wir jetzt in Nexis wären?« fragte sie sanft. »Ich würde dich in jede Taverne der Stadt schleppen und dafür sorgen, daß du dich schlimmer betrinkst als je in deinem ganzen Leben. Forral hat immer gesagt, das wäre die beste Medizin gegen ein gebrochenes Herz.«
Der östliche Horizont begann heller zu werden, und das zunehmende Glitzern reichte aus, um sie zurück in ihr Zelt zu zwingen. Aurian zog das Zelt hinter sich zu und schloß das blendende Licht aus. Anvar grinste sie töricht an. »Wenn wir das nächste Mal in eine Stadt kommen, werde ich dein Angebot mit Vergnügen annehmen – aber ich muß gestehen, daß ich weniger unter einem gebrochenen Herzen als unter meiner Enttäuschung leide, unter der Demütigung und unter reinem Zorn auf mich selbst, weil ich so einfältig gewesen bin.« Sein Mund zuckte seltsam. »Und ich gebe mir die Schuld daran, dich im Stich gelassen zu haben.«
Aurian drückte seine Hand. »Du darfst dich nicht dafür bestrafen, Anvar – das ist jetzt alles vorbei. Sara war die Seelengefährtin deiner Jugend – du hast sie geliebt. Du konntest nicht wissen, wie sehr sie sich verändert hat. Warum versuchst du jetzt nicht ein wenig Schlaf zu bekommen? Vielleicht sehen die Dinge ja nicht mehr gar so schlimm aus, wenn du dich erst einmal etwas ausgeruht hast.«
Er lächelte kläglich. »Also kümmerst du dich wieder mal um mich? Ich dachte, es sollte gerade andersherum sein.«
»Keine Sorge, du tust deinen Teil. Und jetzt schlaf – sonst …«
»Sonst schickst du mir dieses Monster auf den Hals?« Anvar warf einen wachsamen Blick auf Shia. Sie sah in dem engen Zelt besonders gewaltig aus.
»Mach dir keine Sorgen wegen Shia. Sie ist eine gute Freundin. Sie wird sich um uns beide kümmern.« Aurian streckte die Hand aus, um Shias glänzenden Kopf zu streicheln, und wurde mit einem schläfrigen Schnurren belohnt.
»Ich mag ihn«, sagte die Katze.
»Wirklich?« Aurian war überrascht. So etwas hatte Shia noch von keinem gesagt, nicht einmal von Bohan. »Ich mag ihn auch.«
Dann drehte sie sich wieder zu Anvar um, der sich auf den Kissen zusammengerollt hatte und bereits schlief. Unter dem glitzernden Staub, der sein Gesicht überzog, sah er mitgenommen und verletzlich aus, niedergeschlagen von seinem Kummer. Einem Impuls gehorchend, streckte Aurian die Hand aus und berührte sanft seine Wange. Und dann schien sich ihr, so wie sie es schon im Sklavenlager erlebt hatte, das Herz im Leibe umzudrehen – und eins fügte sich plötzlich zum anderen. Aurian riß ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt; in diesem Augenblick begriff sie, daß diese Woge – was immer auch dahinterstecken mochte – dieselbe Kraft war, die die Macht der Armreifen aufgehoben hatte. Sie saß einen Augenblick lang ganz still da, hielt sich ihre Hand und wartete darauf, daß ihr Atem wieder ruhiger wurde und ihr Herz aufhörte, ihr schier aus der Brust springen zu wollen. »Hast du das gespürt?« fragte sie Shia versuchsweise.
»Was gespürt?« Die Antwort der Katze klang schläfrig.
»Oh, egal.« Aurian versuchte, ihre rasenden Gedanken zu ordnen, aber aus irgendeinem Grund war das einzige Bild, das ihr in den Sinn kam, das von Forrals Gesicht, zärtlich und strahlend wie an dem Tag, als sie sich zu erstenmal geliebt hatten. Trauer und Einsamkeit durchschossen sie mit einem so scharfen Schmerz, daß sie einen unterdrückten Schrei ausstieß. Unglücklich und verwirrt ließ sie ihren Tränen endlich freien Lauf und weinte sich in den Schlaf.