Es ging schon auf Mittag zu, als Anvar sein geborgtes Pferd an den Wachen am nördlichen Stadttor vorbeilenkte und sich durch die schmalen Straßen seinen Weg nach Hause bahnte. Die Häuser und Werkstätten in diesem Teil der Stadt waren einfach, aber solide gebaut, aus Holz, Backsteinen und Mörtel. Der größte Teil der Häuser war sehr gepflegt, und die Straßen waren zwar nur mit Kopf Steinpflaster befestigt, aber sauber. Anvar hatte gehört, daß die Menschen in kleineren Städten ihre Abfälle einfach aus dem Fenster warfen und so die Durchgangsstraßen in offene Kloaken verwandelten. In Nexis, dem Juwel unter den Städten und der Heimat der Magusch, wäre so etwas einfach undenkbar gewesen. Etwa vor zweihundert Jahren hatte Bavordran, ein Magusch mit der Gabe der Wassermagie, ein raffiniertes und wirksames System unterirdischer Kloaken ersonnen und die ganze Stadt damit ausgerüstet, und ausnahmsweise nahmen die Magusch – denn sie waren nicht gerade berühmt dafür, daß sie den Sterblichen in Nexis zur Seite standen – die Pflicht der magischen Instandhaltung dieser Kloake wirklich ernst.
Anvars Familie wohnte direkt über Torls Bäckerei, in der Brot, Kuchen und Pasteten gebacken wurden. Ihre Ware verkauften sie auf dem kleinen Markt, der täglich auf dem nahe gelegenen Marktplatz stattfand. Normalerweise erfüllte der Duft frisch gebackener Brotlaibe die Straße, aber heute war das anders. Als er sich dem Haus näherte, konnte Anvar die wütende Stimme seines Vaters hören und biß sich nervös auf die Lippen. Er würde Ärger bekommen, soviel stand fest. Er steuerte den Wagen vorsichtig durch die schmale Gasse, die zu dem kleinen Stall hinter dem Haus führte und brachte Jards Pferd in Lazys Box unter. Es hatte keinen Sinn, die Sache vor sich herzuschieben. Je später er kam, um so wütender würde Torl sein. Also straffte er die Schultern, ging quer über den Hof und trat widerwillig in die Backstube ein. Er hoffte, sein Vater würde ihm eine Chance geben, alles zu erklären.
Torl war nicht in der Stimmung für Entschuldigungen. »Aber es war nicht meine Schuld!« flehte Anvar ihn an. »Er hat mich einfach niedergeschlagen und das Pferd genommen …«
»Und du hast das einfach so zugelassen! Das Tier ist unser Lebensunterhalt, du dummer Kerl! Weißt du, was du getan hast? Weißt du das?« Torl hob seine riesige Faust; sein Arm war von dem jahrelangen Stemmen der Mehlsäcke und dem Kneten von zähem Teig sehnig und muskulös. Anvar duckte sich, aber der Schlag traf ihn an der Schulter und schleuderte ihn in die Ecke, wo er im Fallen einen Stapel leerer Brotbleche umwarf.
»Unbeholfener Narr!« Sein Vater kam wie ein drohender Schatten auf ihn zu, zerrte ihn auf die Füße und schlug abermals zu. »Bleib, wo du bist, du!« Der Bäcker begann, sich seinen Gürtel abzuschnallen.
»Laß den Jungen in Ruhe, Torl. Es war nicht seine Schuld.« Großvaters Stimme war voll ruhiger Autorität. Anvar, der sich seine blauen Flecken rieb, sackte angesichts der unerwarteten Rettung vor Erleichterung zusammen. Der alte Mann war der einzige Mensch, der sich Torls Temperament, wenn er in einer solchen Stimmung war, widersetzen konnte.
Großvater war Anvars Vertrauter, sein Lehrer, Beschützer und Freund; ein Koloß von einem Mann mit dichtem, weißem Haarschopf, freundlichem Gesichtsausdruck und stoppeligem Schnurrbart. Er war früher von Beruf Zimmermann gewesen, und seine Hände mit den dicken Fingern konnten Wunder wirken, wenn er die komplizierten, zarten Schnitzereien anfertigte, die so sehr gefragt waren. Auf diese Weise hatte er der Familie im Laufe der Jahre so manchen willkommenen Pfennig eingebracht, aber sehr zu Torls heftigem Mißfallen verschenkte er ebenso viele Stücke, wie er verkaufte. Der alte Mann, im Herzen ein Bauer, war nach dem tragisch frühen Tod seiner Frau, einer legendären Köchin, zu seinem Sohn gezogen. Torls Mutter war es auch gewesen, die ihrem Sohn all das beigebracht hatte, was seine Backwerke heute so begehrt machte. Viele Jahre lang hatte Großvater versucht, seinen Gram in der Arbeit zu ersticken, aber nun war er zufrieden damit, sich auszuruhen, seine Enkelsöhne zu genießen und sie die schon fast vergessenen, einfachen Werte seiner eigenen Jugend zu lehren. In Anvar hatte er einen willigen Schüler, aber Bern, der jüngere Bruder, war ganz der Sohn seines Vaters, angefangen bei seiner dunklen, stämmigen Erscheinung bis hin zu seiner Liebe zum Geschäft und der Sucht nach Gewinn.
Torl machte ein finsteres Gesicht. Dann ließ er Anvar los, um sich Großvater zuzuwenden. »Du hältst dich da raus, alter Mann!«
»Das glaube ich nicht, Torl. Diesmal nicht.« Großvater stellte sich zwischen den zornigen Bäcker und sein Opfer. »Du bist zu hart mit dem Jungen.«
»Und du verziehst ihn, du und seine Mutter! Kein Wunder, daß der Junge nichts taugt!«
»Und ob er etwas taugt – er taugt sogar zu vielem, wenn du ihm nur eine Chance geben würdest«, sagte Großvater fest. »Statt deinen Zorn an ihm auszulassen, solltest du besser zur Akademie hinaufgehen und feststellen, was aus dem Pferd geworden ist.«
»Was? Ich soll durch die ganze Stadt gehen und dann noch zur Akademie hinauf? Hast du den Verstand verloren, Vater? Wegen dieses Idioten hier haben wir heute schon genug Zeit verschwendet!«
»Das ist Unsinn, Torl. Du kannst Jards Pferd nehmen, und vielleicht ist der Ritt die Zeit ja wert. Es kann nicht schaden, deinen Namen oben in der Akademie bekannt zu machen – die essen nämlich auch Brot, weißt du. Wir können schon mit dem Backen anfangen, während du unterwegs bist, und es besteht immerhin eine gute Chance, daß dieser Forral dich für den Schaden entschädigt. Nach dem, was Anvar gesagt hat, scheint er ein ehrenwerter Mann zu sein, und wenn es ein Notfall war – was konnte er dann tun? Du hättest dasselbe getan, wenn Bern irgend etwas zugestoßen wäre.«
Torl zögerte einen Augenblick und sagte dann mit noch immer finsterer Miene: »Diese Bastarde da oben können meinetwegen verhungern, bevor ich ihnen auch nur einen einzigen Brotkrumen verkaufe. Außerdem, du alter Narr, backen sie ihr eigenes Brot – oder sie haben unter dem kriecherischen Abschaum der Sterblichen jemanden gefunden, der diese Arbeit für sie erledigt!« Zufrieden darüber, das letzte Wort gehabt zu haben, stampfte er hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.
Großvater zuckte mit den Schultern und legte einen Arm um Anvar. »Nun komm, mein Sohn, wir fangen besser gleich an. Wir hinken heute morgen schon ein ganzes Stück hinterher, und es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß sich die Laune deines Vaters noch bessern wird.«
Als Anvar seinem Großvater folgte, hallten die letzten Worte des alten Mannes in Torls Kopf wider. Bern – seines Vaters Liebling! Und er machte sich nie die Mühe, diese Tatsache zu verbergen. Immer nur Bern. Anvar warf einen mürrischen Blick auf seinen dunkelhaarigen, jüngeren Bruder, der hämisch grinsend in der Tür stand. Warum mußte Torl ihn immer so bevorzugen? Großvater hatte recht. Wenn Bern etwas zugestoßen wäre, hätte sein Vater Berge versetzt, um ihm zu helfen. Für ihn, Anvar, hätte er dagegen … Anvar seufzte. Er wußte nur zu gut, was sein Vater von ihm hielt. Aber wenn er doch nur herausfinden könnte, warum das so war.
Bei Einbruch der Dunkelheit zog Anvar sich die Leiter zu dem vollgestopften kleinen Dachboden hinauf, den er mit Bern teilte. Endlich war er mit der Arbeit fertig. Er war zu müde gewesen, etwas von dem besonders guten Abendbrot zu essen, das seine Mutter zubereitet hatte, um die düstere Stimmung seines Vaters zu besänftigen. Da er nicht einmal mehr die Kraft hatte, sich auszuziehen, warf er sich einfach aufs Bett. Götter, war das ein schrecklicher Tag gewesen! Torl hatte sie wie Sklaven schuften lassen und seine Wut über Anvars Mißgeschick an der ganzen Familie ausgelassen. Seine Mutter war am Ende des Tages bleich gewesen und hatte vor Müdigkeit gezittert, und Anvar wurde von seinen Schuldgefühlen beinahe überwältigt, denn er wußte, daß er die Ursache für ihre Erschöpfung war. Ria war niemals sehr stark gewesen, aber sie schuftete, ohne sich zu beklagen, aus Angst, daß Torls Zorn sich wieder auf ihren Sohn richten würde, wenn sie auch nur einen Augenblick verschnaufte. Anvar fragte sich, wie so oft schon, was diese sanfte, intelligente Frau bewogen hatte, seinen groben und geldgierigen Vater zu heiraten. Sie hätte etwas weit Besseres verdient. Sie war zart und schlank, hatte genau wie Anvar dunkelblondes Haar und blaue Augen und war offensichtlich einst eine Schönheit gewesen.