Bern konnte es kaum glauben, als sein Vater in dem Kanal verschwand. Er entfernte sich schnell aus seinem Versteck in den Schatten und lief zu dem Gitter hinüber, gerade rechtzeitig, um aus der Schwärze darunter Torls Flüstern zu hören. »Ich bin es. Hör mal, ich muß unbedingt mit Vannor sprechen. Ich glaube, mein Sohn wird langsam mißtrauisch.«
Bern versteifte sich. Vannor? Die Magusch hatten Vannor zum Geächteten erklärt. Überall in der Stadt gab es Gerüchte, daß er eine Armee gegen die Magusch um sich versammelte. Bern brauchte nur einige Sekunden, um die offensichtliche Schlußfolgerung zu ziehen – und die Lösung für seine Probleme zu finden. Torl würde für seinen Verrat sterben und für alle Zeiten aus dem Wege sein – und natürlich würde es auch eine Belohnung geben. Er konnte das Geschäft wieder aufbauen … Bern rappelte sich auf und rannte los. Sollte er zur Akademie gehen? Nein, die Garnison war näher. Sie konnten die Rebellen überraschen und Torl auf frischer Tat ertappen. Er würde sich allerdings zuerst versichern, daß es auch eine Belohnung gab. Der neue Kommandant, Angos, war ein übellauniger Söldner, der in den Diensten der Magusch stand; ein Mensch, der seine Großmutter für einen Gewinn verkaufen würde. Aber wen kümmerte das, wenn er und seine Soldaten Berns Erbe sicherten? Ungeachtet des Schnees begann Bern, schneller zu laufen.
»Sie lebt noch, ich sage es euch!« Miathans knochige Fäuste hämmerten mit lautloser Gewalt auf die dicke Decke, die über seinem Bett lag. Unter dem Verband, der die Zerstörung seiner ausgebrannten Augen verbarg, war sein Gesicht vor Wut verzerrt.
Bragar trat näher an Eliseth heran, um ihr ins Ohr zu flüstern: »Bist du sicher, daß sie nur seine Augen und nicht auch sein Gehirn versengt hat?«
»Das habe ich sehr wohl gehört!« Miathan wandte sich mit unfehlbarer Genauigkeit zu dem Feuermagusch um und hob die Hand. Ein kühler, nebliger Dunst ergoß sich mit ungeheurer Geschwindigkeit aus seinen Fingern und sammelte sich um Bragars Füße, wo er sich zu der Gestalt einer glänzenden Schlange vereinigte, die sich langsam um die Beine des Magusch nach oben schlängelte. Bragar unterdrückte einen Aufschrei und versuchte, sich mit hektischen, abwehrenden Gesten zu schützen, aber es war bereits zu spät – der grausame Kopf des magischen Wesens hatte sich bereits bis zu seinem Gesicht hinaufgearbeitet. Die Schlange zischte und zeigte messerscharfe Fangzähne, auf denen das Gift glitzerte.
»Miathan, nein!« rief Eliseth hastig. »Er hat es doch nicht so gemeint!«
»Sie hat recht, Erzmagusch! Ich – ich entschuldige mich!« Bragars Stimme war nicht mehr als ein Quieken. Die Schlange verschwand. Miathan stieß ein gehässiges, gackerndes Lachen aus, ein Lachen, das mit schockierender Plötzlichkeit wieder versiegte.
»Was wirst du dagegen tun?«
Die Wettermagusch runzelte die Stirn. »Gegen Bragar, Erzmagusch?«
»Nein, du dummes Weib! Gegen Aurian! Sie ist auf dem Weg hierher! Auf dem Weg zu mir; zu uns allen! Sie sucht meine Träume heim; sie kommt uns immer näher, mit Tod in ihren Augen …«
»Erzmagusch, wie ist das möglich?« protestierte Bragar. »Sie ist in Eliseths Sturm untergegangen. Wir haben es alle gespürt …«
»Es war nicht stark genug!« fuhr der Erzmagusch ihn an. »Nicht so, wie in dem Augenblick, als dieser Kretin von Davorshan es geschafft hat, sich umbringen zu lassen.«
Eliseth stöhnte auf, und Miathan gackerte von neuem los. »Oh, ich habe von Anfang an über dich und Davorshan Bescheid gewußt. Ich mag ja blind sein, aber mir entgeht hier nicht viel, laßt euch das gesagt sein.«
Eliseth drehte sich wütend zu ihm um. »Darum geht es jetzt gar nicht«, sagte sie energisch. »Aurian ist tot! Welchen Unterschied macht es schon, daß wir ihr Dahinscheiden kaum gespürt haben? Das ist doch nicht weiter überraschend, mit dem Ozean zwischen uns – ganz zu schweigen von all der Panik wegen ihres Angriffs auf dich.«
»Eliseth, du bist eine Närrin«, erwiderte Miathan. »Aurian lebt und ist eine Bedrohung für uns alle. Wenn wir behalten wollen, was wir gewonnen haben, dann muß irgend jemand sie aufhalten.« Seine spinnenartigen Hände umklammerten den Kristall an seinem Hals. »Und was ist mit diesem verfluchten Anvar? Ich weiß, daß er deinen stümperhaften Sturm überlebt hat.«
»Wer, zum Kuckuck, ist Anvar?« unterbrach ihn Bragar.
Eliseth sah ihn verständnislos an. »Keine Ahnung.«
»Er war Lady Aurians Diener.« Elewins respektvolle Stimme drang aus der Ecke zu ihnen hinüber. Der Haushofmeister war nun schon so lange dort, um seinen Herrn ergeben zu pflegen, daß sie seine Gegenwart ganz vergessen hatten. »Mein Lord Erzmagusch hat den armen Anvar nie gemocht«, fuhr er fort, »obwohl er der gewissenhafteste Junge war, den ich je gehabt habe –«
»Halt den Mund!« fauchte Miathan. »Ja, er war ihr Diener, und zwar gegen meinen Willen. Ich will, daß er stirbt, habt ihr gehört? Ich will seinen Kopf auf einem Spieß; sein Herz aus seinem lebendigen Körper herausgerissen; seine Leiche in Stücke gehackt und in den Erdboden getreten! Ich will …«
»Seht, Erzmagusch«, murmelte Eliseth und reichte ihm einen Kelch Wein. »Bragar und ich werden uns um Aurian und ihren Diener kümmern, das verspreche ich dir.«
»Nicht Aurian, du Idiotin! Aurian will ich lebend. Ich will sie …« Miathan leckte sich auf unappetitliche Art und Weise die Lippen und versank in eine schmachtende Tagträumerei. Bragar öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Eliseth brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Keine Sorge, Erzmagusch«, sagte sie. »Du kannst die Angelegenheit beruhigt in unsere Hände legen. Bleib bei ihm, Elewin!« Dann nahm sie Bragars Hand und zog ihn entschlossen von Miathans Bett weg.
Elewin verbeugte sich respektvoll, als sie das Zimmer verließen. Dann sagte er: »Noch etwas Wein, Erzmagusch?« Er riß den Becher aus Miathans Umklammerung. Dann zog er ein kleines Briefchen aus seiner Tasche und schüttete dessen Inhalt, einen grünlichen Puder, in den Wein, bevor er ihn Miathan zurückgab. »Ist es besser so, Lord Erzmagusch?«
Miathan leerte den Becher. »Ja, es ist gut. Ich erkenne zwar den Jahrgang nicht, aber es ist sehr gut …« Er ließ sich wieder in die Kissen sinken und begann sofort leise zu schnarchen. Elewin nahm ihm den Becher ab und richtete sich auf; all seine Unterwürfigkeit war verschwunden. Dann folgte er den beiden anderen Magusch und schlich nach unten bis zu Eliseths Tür. Dort legte der Haushofmeister ein Ohr auf die Holzpaneele und machte sich bereit, zu lauschen.
Eliseths weißgetünchte Kammer war geräumig und spartanisch eingerichtet. Ihre wenigen Möbelstücke elegant, aber ungemütlich. Bragar wandt sich unbehaglich auf einem harten Holzstuhl hin und her und wünschte, die Wettermagusch würde nicht darauf bestehen, der Welt eine so kühle Fassade zu präsentieren. Er wußte, daß das Schlafzimmer hinter den Türen am anderen Ende des Raumes eine Höhle des Luxus war; ein parfümierter Tempel mit Pelzteppichen und seidenen Wandbehängen, allein der Sinnlichkeit und der Lust gewidmet. Der Gedanke an dieses Zimmer erinnerte ihn auf unerfreuliche Weise daran, daß Eliseth ihm den Zugang zu diesem inneren Heiligtum entschieden verweigert hatte, seit sie begonnen hatte, sich für Davorshan zu interessieren. Wie froh er über den Tod dieses schleimigen Jünglings gewesen war!
»Wein?« Eliseth holte zwei Kelche aus einem Schrank in der Ecke.
»Hast du nichts Stärkeres?«
Die Magusch verdrehte ihre Augen zur Decke. »Du trinkst zuviel, Bragar«, fuhr sie ihn an. »Wie soll ich mich auf dich verlassen, wenn dein Gehirn ständig in Alkohol eingelegt ist?«
»Halt den Mund und gib mir etwas zu trinken!« fauchte Bragar. Warte nur, dachte er. Eines Tages wirst du es mir büßen, daß du mich so behandelt hast. Und wenn ich mit dir fertig bin, wirst du um Gnade bitten – oder um mehr! Der Gedanke daran war zusammen mit dem Glas Schnaps, das sie ihm widerwillig reichte, ein großer Trost.
»Nun, was hältst du davon?« Eliseths Stimme zerstörte seinen Tagtraum. »Nicht, daß es irgendeinen Sinn hätte, dich danach zu fragen«, fügte sie hinzu und setzte sich mit einem Glas Weißwein in der Hand auf einen Stuhl in der Nähe des Feuers.