»Jetzt weiß ich wirklich, daß du es bist!« Tränen und Gelächter lagen in ihrer Stimme, als sie mit einer Kraft, die ihm beinahe die Rippen brach, ihre Arme um ihn schlang, ohne sich auch nur im geringsten um den Schmutz zu kümmern, in dem sie sich gesuhlt hatten.
»Sangra, was ist los?« Parric löste sich nur widerwillig aus ihrer Umarmung.
»Der Bäckerssohn hat euch verraten – oder um genau zu sein, er hat Vannor verraten. Wir hatten ja nicht die geringste Ahnung, daß du hier unten bist. Parric, sind noch andere von uns bei dir?«
»Ja. Eine ganze Menge sogar.«
»O ihr Götter, ich muß unbedingt unsere Leute warnen. Wir werden nicht gegen unseresgleichen kämpfen.«
»Das ist mein Mädchen! Komm – schnell!«
Die Truppe aus der Garnison hatte Vannors kleine Streitmacht in eine Sackgasse gedrängt, und der Kampf war in vollem Gange. Die Soldaten hatten Fackeln mitgebracht, aber die meisten waren mittlerweile verlöscht, und in der Halbdunkelheit war es schwierig, Freund von Feind zu unterscheiden. Sangra vermochte es jedoch. Sie und Parric stießen von hinten auf den Tumult und warfen sich mitten ins Kampfgetümmel. Parric fand es mit seiner schlanken Gestalt nicht weiter schwierig, sich durch das Gedränge der Kämpfenden hindurchzuschlängeln. Seine Methoden waren höchst direkt. Jeden, den er kannte, verschonte er. Jeder Fremde bekam die Klinge seines Messers zu spüren. Sangra umkreiste in der Zwischenzeit das Kampfgetümmel und blieb immer wieder stehen, um jedem von Forrals alten Soldaten, dem sie begegnete, etwas ins Ohr zu flüstern, worauf sich deren Verhalten schlagartig änderte. Erleichterung und Freude breiteten sich auf ihren Gesichtern aus, und sie wandten ihre Waffen nun gegen Angos grausames Söldnerheer.
Es war sehr schnell vorbei. Vannors Rebellen waren, nachdem man sie von dem schlimmsten Druck des Kampfes befreit hatte, in der Lage, die Offensive zu ergreifen, und die Söldner fanden sich bald von beiden Seiten angegriffen. Parric gelang es, sich zu dem Kaufmann durchzuarbeiten, um zu erklären, was geschehen war, und schon sehr bald feierten die Mitglieder von Forrals alter Schar über den Leichen der toten Söldner ein fröhliches Wiedersehen.
Wenn Vannor verwirrt darüber war, daß seine kleine Streitmacht sich plötzlich auf über fünfzig Soldaten verdoppelt hatte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken, und als Parric ihm Sangra vorstellte, begrüßte er sie mit äußerster Höflichkeit, wobei er mannhaft die Tatsache ignorierte, daß sie und der Kavalleriehauptmann sich nach ihrem Bad in der Kanalisation in einem geradezu widerwärtigen Zustand befanden. »Wenn wir gewußt hätten, daß ihr alle hier unten seid«, entschuldigte Sangra sich, »dann wären wir schon lange zu euch übergelaufen. Wir haben eine schreckliche Zeit hinter uns, nachdem Angos seine Söldner herbeigeschafft hat, um unsere Streitmacht zu vergrößern. Aber wir hatten das Gefühl, bleiben zu müssen. Wir dachten, Forral würde es von uns erwarten, weil wir doch der Stadt Treue geschworen haben und weil wir das Volk vor den schlimmsten Ausschreitungen von Angos und den Magusch bewahren wollten.« Sie sah Parric an. »Was machen wir jetzt? Angos wartet mit weiteren Soldaten am Eingang des Kanals.«
»Geht nach Norden«, warf eine entschlossene Stimme ein. »Es sollte nicht schwierig sein, aus der Stadt herauszukommen. Angos kann unmöglich alle Kanäle gleichzeitig beobachten. Die Nachtfahrer werden uns aufnehmen.«
Vannor zog eine Grimasse. »Dulsina, wirst du niemals aufhören, alles und jeden zu organisieren?«
Die große, dunkelhaarige Frau grinste ihn an. »Nicht, solange noch ein einziger Atemzug in meinem Körper ist«, sagte sie fröhlich. »Außerdem hat Zanna dich sehr vermißt, trotz der Botschaften, die wir ihr schicken konnten. Es ist wirklich langsam Zeit, daß du deine Tochter wiedersiehst.«
»Einen Augenblick mal!« unterbrach Parric sie. »Du kennst die Nachtfahrer? Und sogar gut genug, um deine Tochter bei ihnen zu lassen?« Der Kavalleriehauptmann hob fragend die Augenbrauen. »Mögen die Götter mir die Kraft geben! Diese verdammten Schmuggler waren ein stetiger Dorn in Forrals Fleisch. Er hat uns alle zur Verzweiflung gebracht, weil er herausfinden wollte, wo sie sich versteckten, und du hast es die ganze Zeit über gewußt!«
Vannor blinzelte. »Was glaubst du, wie ich zu meinem Vermögen gekommen bin?«
Parric brach in Gelächter aus. »Du Schurke! Du hast sie benutzt, um mit den Südländern zu handeln, um an Juwelen, Seide und solche Sachen heranzukommen, nicht wahr?«
»Ein Mann muß ja irgendwie weiterkommen.« Der Händler zuckte die Achseln. »Außerdem erweist sich meine kriminelle Vergangenheit ja jetzt als höchst nützlich. Kommt, laßt uns gehen.«
Die Rebellen hatten nur wenig Opfer zu beklagen. Aber als sie die Abflußkanäle verließen, entdeckte Parric die Leiche von Torl, der mit dem Gesicht nach unten und einem Messer im Rücken den Kanal hinuntertrieb. Er seufzte. Der alte Mann war zwar eine jämmerliche Erscheinung gewesen, aber er hatte den Rebellen doch stets geholfen. Trotzdem war es besser so. Wenigstens hatte er nie erfahren, daß sein eigener Sohn ihn verraten hatte. Oder vielleicht doch? Bei näherem Hinsehen stellte Parric fest, daß das Messer kein Soldatendolch war, sondern ein langes, gezahntes Brotmesser …
Die Rebellen beschlossen, die Kanäle zu benutzen, um durch die Stadt zu gelangen, und dann den Fluß hinunter nach Norberth zu fahren, auf demselben Weg, den Aurian genommen hatte. Wenn sie erst einmal dort waren, konnten sie Kontakt mit einem von Yanis’ Leuten aufnehmen, der dafür sorgen würde, daß ein Schiff sie zum Versteck der Schmuggler brachte. Es war eine alptraumhafte Reise. Vannors Schar war zwar daran gewöhnt, die schlüpfrigen Gehwege zu benutzen, aber die neuen Gesetzlosen hatten ihre liebe Not damit. Alle paar Augenblicke hörte man ein Platschen, gefolgt von Flüchen, wenn wieder einmal jemand in den Kanal gefallen war und gerettet werden mußte. Obwohl die Soldaten die Sache auf die leichte Schulter nahmen, machte Parric sich doch große Sorgen. Er wußte nur allzugut, wie groß die Gefahr war, seine Leute an eine der Krankheiten zu verlieren, die an diesem Ort wüteten.
Als er an dem Kanal vorbeikam, der die Akademie mit den Katakomben verband, stieß Parric einen Seufzer der Erleichterung aus. Jetzt hatten sie es nicht mehr weit bis zum Ausgang und zu der gesegneten frischen Luft. Da er die Nachhut bildete, wurde er langsam unruhig. Seine Instinkte, die er im Laufe vieler Jahre entwickelt hatte, sagten ihm, daß sie verfolgt wurden. Unsinn, widersprach er sich selbst. Angos kann uns in diesem Labyrinth von Tunneln unmöglich finden. Aber es hatte keinen Sinn. Da er es nicht mehr länger aushalten konnte, ließ er sich zurückfallen.
»Da hab’ ich dich!« Die in einen Umhang gehüllte Gestalt war zwar groß, aber von schmalem Körperbau und kein Krieger. Parric hatte keine Schwierigkeiten, mit seinem Gegner fertig zu werden, und zumindest schien der Bursche allein zu sein. Dann hörte er zu seinem Erstaunen eine Reihe gedämpfter, spitzer Schreie von der Gestalt. Ohne Zweifel war sein Gefangener eine Frau. Er wollte ihr gerade die Kapuze herunterreißen, als er den Klang von Schritten hörte, die sich ihnen auf dem schlüpfrigen Gehsteig näherten, und schließlich erschien Elewin mit einer Laterne in der Hand. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln schierer Erleichterung, als er Parrics Gefangenen sah.
»Den Göttern sei dank, daß du sie gefunden hast!« rief er.
»Daß ich wen gefunden habe?« Im Licht der Laterne zog Parric der Frau die Kapuze herunter und keuchte. »Lady Meiriel!«
Die Magusch spuckte ihm ins Gesicht. »Nimm deine Hände von mir!«