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»Rabe?« Die Prinzessin wirbelte mit finsterer Miene herum.

»Geh weg, Mutter! Ich weigere mich, den Hohepriester zu heiraten, und das ist mein letztes Wort in dieser Sache.«

»Das ist es nicht!« Kummer und Bedrängnis hatten neue Linien auf Flammenschwinges Gesicht gezeichnet, aber die Stimme der Königin hatte noch immer ihren gewohnten herrischen Klang. Sie ging in dem kleinen, kreisförmigen Zimmer auf und ab, und ihre rotgoldenen Schwingen raschelten, während ihr Gesichtsausdruck gleichzeitig abwehrend und wütend war.

»Du wirst tun, worum man dich bittet«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Du bist eine Prinzessin von königlichem Blut, Rabe; die Tochter einer Königin. Du bist in dem Sinne erzogen worden, daß du deinem Volk und dem Thron gegenüber Verantwortung hast, von denen eine darin besteht, daß du eine vorteilhafte Heirat eingehen mußt.«

»Zu wessen Vorteil soll diese Heirat denn sein?« rief Rabe.

»Zu meinem? Zu deinem? Wenn ich dieses korrupte alte Ungeheuer heirate, wer wird dann wirklich davon profitieren? Nur er, und das ist alles! Er kann nichts tun, um uns zu helfen, Mutter. Er betrügt dich, dich und unser ganzes Volk. Er hat keinen Einfluß auf den Himmelsgott. Haben seine Opfer denn irgend etwas bewirkt? All diese Menschen, die sterben mußten – Menschen unseres Volkes, das zu beschützen wir geschworen haben! Verschwendet, und noch immer lastet das Grauen dieses ungewöhnlichen Winters auf uns. Und nun besteht sein Preis für unsere Rettung in meiner Hand. Wodurch er zufällig eine unangreifbare Machtposition erlangen wird. Erkennst du denn nicht, daß er ein Betrüger ist? Wie kannst du nur so dumm sein?«

»Wie kannst du es wagen!« Der Klang des Schlages, den sie Rabe versetzte, schien in der anschließenden Stille noch widerzuhallen. Rabe taumelte entsetzt zurück und preßte sich die Hand aufs Gesicht; Tränen standen in ihren großen, dunklen Augen. Noch nie zuvor hatte Flammenschwinge die Hand gegen ihre geliebte Tochter erhoben.

»Mutter, bitte.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Du kennst doch die Sitten unseres Volkes. Wenn wir heiraten, dann ist es für das ganze Leben. Wenn ich also Schwarzkralle zum Mann nehme, werde ich den Rest meiner Tage im Elend verbringen – mit jemandem, den ich fürchte und verachte. Obwohl Prinzessinnen passend heiraten müssen, hatte sich einem solchen Ansinnen bisher noch nie eine Prinzessin zu fügen. Ich bitte dich, zwing mich nicht, ihn zu heiraten. Er ist böse, und ich weiß es.«

Flammenschwinge seufzte. »Kind, niemals in unserer Geschichte, nicht seit der Verheerung, haben wir uns in solcher Gefahr befunden. Noch nie hat es eine so plötzliche und unerbittliche Kälte gegeben. Nichts wächst mehr auf unseren Terrassen. Alle Tiere sind tot oder in wärmere Länder geflüchtet. Dieser Winter tötet alles, was er berührt. Schwarzkralles Fürsprache ist unsere einzige Hoffnung. Unser Volk stirbt, Rabe! Es schmerzt mich mehr, als ich sagen kann, aber ich habe keine andere Wahl. Morgen wirst du Schwarzkralle heiraten, und damit ist die Sache erledigt. Und jetzt – er möchte mit dir sprechen, und du wirst höflich zu ihm sein. Dein Volk braucht dich, Rabe. Du wurdest zur Prinzessin erzogen – jetzt benimm dich auch wie eine!« Sie rauschte schnell aus dem Zimmer heraus, als wäre der Anblick ihrer Tochter zusammen mit dem Hohepriester mehr, als sie ertragen konnte.

Schwarzkralles Kopf war kahl und über und über mit geheimnisvollen Bildern und magischen Symbolen bemalt. Sein Gesicht war ausgemergelt und grausam, mit einer Hakennase und brennenden, fanatischen Augen. Seine Flügelfedern waren von einem dumpfen, staubigen Schwarz, und seine Roben paßten sich ihrer Farbe vollkommen an. Seine Arroganz in Gegenwart einer königlichen Prinzessin war eine solche Unverschämtheit, daß Rabe ihn am liebsten ins Gesicht geschlagen hätte.

»Ich bin gekommen, um meiner Braut am Vorabend ihrer Hochzeit meine Aufwartung zu machen«, sagte er grinsend. »Wie hübsch du aussiehst, meine Liebe. Ich kann es kaum erwarten.« Er streckte eine gierige Hand aus, um sie zu berühren, und Rabe trat hastig zurück und zückte ihren Dolch.

»Rühr mich nicht an!« fauchte sie. »Ich würde lieber sterben, als dich zu heiraten, du widerlicher, alter Aasgeier.«

Der Hohepriester lächelte, aber auf seinem Gesicht zeigte sich kein Humor. »Wie hübsch«, sagte er. »Was für ein kleiner Hitzkopf! Wie froh ich bin, daß du so empfindest. Das wird deine Eroberung nur um so vergnüglicher machen.«

»Rechne nicht zu fest damit«, gab Rabe durch zusammengebissene Zähne zurück.

»Und ob ich das tue, meine Liebe. Sobald du die meine bist, werden ein paar kräftige Peitschenhiebe dein Temperament schon bändigen.«

Rabe keuchte. »Das würdest du niemals wagen!«

»Ich würde es kaum wagen, der Prinzessin mit Gewalt zu begegnen, o nein.« Schwarzkralle zog die Schultern hoch. »Wie ich jedoch meine Gemahlin züchtige, das ist meine eigene Angelegenheit – wie du schon bald feststellen wirst. Angenehme Träume, meine kleine Braut. Schlaf gut, solange du noch die Gelegenheit dazu hast!«

Nachdem Schwarzkralle gegangen war, verschwendete Rabe nur wenige Minuten damit, zu weinen. Die Zeit war plötzlich zu kostbar dafür geworden, denn sie wußte, daß ihre einzige Hoffnung in der Flucht bestand. Etwa eine Stunde lang ging sie hinter ihrer verschlossenen Tür auf und ab, um einen Plan zu schmieden. Sie wußte, daß es ihnen niemals in den Sinn kommen würde, daß sie weglaufen könnte. Den Geflügelten war es durch ein uraltes Gesetz verboten, ihr Bergkönigreich zu verlassen. Rabe hatte sich oft gefragt, warum das so war, aber niemand schien fähig oder willens, ihr eine Antwort darauf zu geben. Falls jemand dennoch fortging, war er automatisch zum Tode verurteilt, falls er je versuchen sollte, zurückzukehren, und dieses Verbot war ihrem Volk so in Fleisch und Blut übergegangen, daß keiner aus dem Geschlecht der Geflügelten es normalerweise auch nur in Betracht zog, das Reich zu verlassen. Schon der bloße Gedanke daran war genug, um Rabes Hände zittern zu lassen, so daß ihre Vorbereitungen zweimal so lange dauerten, wie es sonst der Fall gewesen wäre.

»Ich habe keine andere Wahl«, sagte Rabe fest zu sich selbst, als sie Brot und Fleisch von ihrem unangetasteten Abendessen in eine kleine Tasche füllte, die sie an ihrem Gürtel befestigte. Dann fischte sie ihre Armbrust aus ihrem Versteck unter dem Bett hervor, flocht sich ihre ungebärdige Wolke feinen, dunklen Haares und zog ihre Flugkleidung an – einen schwarzen, gefalteten Lederrock, der ihren Gliedmaßen genügend Bewegungsfreiheit gab, und dazu lederne Sandalen, deren Riemen bis an ihre Knie heraufreichten. Sie beschloß, sich mit nichts sonst zu belasten. Rabes Rasse war normaler Kälte gegenüber unempfindlich, und sie hoffte, schnell genug der Kälte dieses unnatürlichen Winters entfliehen zu können. Dann steckte sie sich noch ihren Dolch in den Gürtel und ging zum Fenster hinüber. Es bereitete ihr keine Probleme, sich vom Fenstersims herabzuschwingen. Das hatte sie seit ihrer Kindheit oft genug getan, nachdem ihr aufgefallen war, wie reizvoll unerlaubte Flüge sein konnten. Ausnahmsweise war sie nun einmal froh darüber, daß ihre Mutter darauf bestanden hatte, daß sie ihren Teil an der lästigen Bürde der Palastverwaltung übernahm. Sie kannte die Position jedes Wachpostens in der Stadt, und, was noch wichtiger war, sie wußte, wie man ihnen aus dem Wege ging.

Wieder einmal war einer dieser unvorhersehbaren Schneestürme aufgekommen, und Rabe zuckte angesichts des furchtbaren Wetters draußen zusammen. Aber obwohl es schierer Wahnsinn war, hieß es nun: jetzt oder nie! Wenn man sie erwischte, waren die Konsequenzen unausdenkbar. Als sie auf das Fenstersims kletterte, zögerte Rabe noch einen Augenblick, plötzlich überwältigt von der Ungeheuerlichkeit des Schritts, den sie zu tun im Begriff war. Falls ihre Mutter doch recht hatte, betrog sie ihr ganzes Volk. Außerdem war ihr Leben verwirkt, wenn sie die Berge hier verließ. Es gab keine Rückkehr für sie. Nachdenklich berührte sie ihre Wange dort, wo noch immer der Abdruck der Hand ihrer Mutter brannte, und erinnerte sich an die Grausamkeit in Schwarzkralles Augen. Das war genug. Rabe holte tief Luft, sprang von dem Sims und breitete ihre großen, schwarzen Schwingen aus, so daß die Luft darunter ihren senkrechten Sturz bremste. Dann stieß sie herab und umrundete wie eine Fledermaus auf der Jagd die im Schatten liegende Seite des zinnengekrönten Palastes, bevor sie endgültig ihr Zuhause und das Land ihres Volkes verließ.