Rias Vergangenheit war ein Rätsel. Im Gegensatz zu allen anderen in ihrer Nachbarschaft konnte sie lesen und schreiben und musizieren, Fertigkeiten, die sie Anvar beigebracht hatte. Eine reine Zeitverschwendung hatte Torl es genannt und darauf hingewiesen, daß Bern mehr Verstand hatte, als die Grillen der sogenannten besseren Leute nachzuäffen. Er trat in die Fußstapfen seines Vaters, wie es sich für einen ordentlichen Sohn gehörte. Aber ausnahmsweise einmal hatte Ria ihrem Mann getrotzt, und Anvar war froh darüber. Seit dem Tag, an dem sein Großvater ihm seine erste kleine Holzflöte geschnitzt hatte, hatte er sich in die Musik verliebt und jede freie Minute des Tages mit Üben verbracht, womit er seine Familie, vor allem seinen Vater, zur Verzweiflung trieb. Schon bald beherrschte er all die einfachen Melodien, die er kannte, und hatte begonnen, seine eigenen zu komponieren, wobei er die Möglichkeiten der einfachen Flöte bis an ihre Grenzen ausgelotet hatte – selbst Großvater hatte bei all seiner Kunstfertigkeit inzwischen Schwierigkeiten, ihm Instrumente zu bauen, denen er die Töne entlocken konnte, die er für seine Weisen brauchte. Anvar lebte ganz für seine Musik. Sein Spiel und Sara waren der einzige Trost in seinem Leben, das sonst nur aus harter Arbeit bestand, und er segnete seine Mutter dafür, daß sie ihm ein so kostbares Geschenk gemacht hatte.
Anvar liebte Ria. Mit den Jahren war sie verwelkt und inzwischen zu sehr von Sorgen gezeichnet und eingeschüchtert, um sich gegen den tyrannischen Torl noch zur Wehr setzen zu können. Anvar wünschte nur, er könnte sie besser beschützen – aber obwohl er zu einem sehr großen und breitschultrigen Jüngling herangewachsen war, hatte das doch nichts an der Schlaksigkeit seiner mageren Gestalt geändert. Wenn es zu einer Auseinandersetzung käme, konnte Torl ihn immer noch mit einem einzigen Schlag fällen.
Anvar seufzte. Heute nacht hatte er andere Probleme, über die er nachdenken mußte. Er war mit Sara an ihrem gewöhnlichen Treffpunkt am Flußufer verabredet, aber die mörderische Arbeitslast, die ihm von Torl auferlegt worden war, hatte ihn den ganzen Tag über in Atem gehalten. Er hoffte nur, daß sie nicht wütend sein würde, wenn er jetzt nicht mehr kommen konnte. Außerdem war er traurig wegen des armen Lazys. Forral hatte ihn zuschanden geritten, und Torl in seiner Rohheit hatte ihn an den Pferdeschlächter verkauft. Anvar trauerte um den Verlust des alten Pferdes. Wenn auch störrisch und halsstarrig, hatte das Tier doch Charakter und Intelligenz besessen – die es regelmäßig dazu benutzte, sich vor der Arbeit zu drücken. Anvar würde ihn vermissen. Torl dachte jedoch nur an die großzügige Summe, die Forral ihm in der Akademie hinterlassen hatte. Er hatte Anvars Reitersmann allerdings nicht zu Gesicht bekommen, denn Forral hatte sich nur lange genug aufgehalten, um die Lady Meiriel, die Heilerin, abzuholen, und die beiden waren so schnell wie möglich auf frischen Pferden nach Norden aufgebrochen.
Anvar fragte sich, was das wohl für ein Mädchen war, dessen Leben das in Gefahr schwebte. Zuerst war er geneigt gewesen, das mysteriöse sterbende Mädchen zu verabscheuen, das all diese Unannehmlichkeiten verursacht hatte, aber als er so darüber nachdachte, stellte er fest, daß er hoffte, die Heilerin würde rechtzeitig ihr Ziel erreichen, um sie zu retten. Dann wäre Lazys Tod wenigstens nicht ganz umsonst gewesen.
Einige Wochen später hätte Anvars eigene Familie die Dienste der Heilerin verzweifelt gebraucht. Den ganzen Winter über hatte Großvater sich über Müdigkeit und Schmerzen in den Knochen beklagt, und nach dem Sonnenwendfest in der trostlosen, grauen Jahreszeit, die sich auch noch über die Jahreswende hinaus erstreckte, war der alte Mann bettlägerig und von Tag zu Tag schwächer geworden – trotz Rias aufopfernder Pflege mit Kräutertränken und der alten Volksheilmittel, die die einzige Medizin waren, über die die Sterblichen in der Stadt verfügten. Als sich Anvar jedoch an Forral erinnerte und seinen Vater bat, nach der Heilerin zu schicken, wies Torl ihn schroff zurecht. »Ich weiß wirklich nicht, woher du deine Ideen hast«, sagte er. »Eine Familie wie unsere soll nach der Heilerin schicken? Sie würde uns ins Gesicht lachen! Außerdem wird von diesem Maguschabschaum keiner meine Schwelle überschreiten! Und jetzt mach dich wieder an die Arbeit, Junge, bevor ich dich meinen Gürtel spüren lasse!«
Als Anvar an diesem Abend seinen Großvater besuchte, war der alte Mann zu schwach, um mit ihm zu sprechen. Er lag mit gelbem und eingefallenem Gesicht in seinen Kissen. Seine Haut war von einer merkwürdigen Durchsichtigkeit, die Anvar nie zuvor bemerkt hatte, und ohne zu wissen warum, wurde er plötzlich von schrecklicher Angst überfallen. »Mutter, hilf ihm«, bat er.
Ria schüttelte den Kopf. Sie hatte Tränen in den Augen. »Anvar, du mußt dich damit abfinden«, sagte sie sanft. »Großvater stirbt.«
»Nein!« stieß Anvar hervor. »Er kann nicht sterben!« Dann traf er plötzlich einen Entschluß. »Ich werde zur Heilerin gehen, wenn Vater es nicht will.«
»Das kannst du nicht!« Ria wurde totenblaß, und ihre Augen weiteten sich in abgrundtiefem Entsetzen. Trotz der Verzweiflung, die Anvar empfand, erstaunte ihn ihre Reaktion. Dann warf er wieder einen Blick auf das Gesicht seines Großvaters.
»Warum nicht?« wollte er wissen. »Ich habe keine Angst vor Vater. Außerdem ist er in die Taverne gegangen. Wenn ich mich beeile, merkt er es vielleicht nicht einmal.«
»Darum geht es nicht!« Ria zitterte. Sie griff nach Anvars Händen. »Anvar, du und ich – wir dürfen niemals irgend etwas mit den Magusch zu tun haben. Ich kann dir nicht sagen warum, aber du mußt mir glauben. Halt dich von ihnen fern, mein Sohn, um meinetwillen – und ganz besonders auch um deinetwillen. «
Anvar war sprachlos vor Erstaunen. Was hatte seine Mutter mit den Magusch zu tun, das sie in solche Angst versetzen konnte? Aber sie wollte es ihm nicht sagen, und es blieb ihm auch keine Zeit mehr, es herauszufinden. Er riß sich los. »Es tut mir leid, Mutter.« Leise schlich er sich nach unten, wobei er hoffte, daß er nicht Bern begegnen würde, der immer auf der Suche nach einer Gelegenheit war, ihn in Schwierigkeiten zu bringen. Als er die Straße erreicht hatte, begann er zu laufen, den Hügel hinab in Richtung Fluß. Aus dem offenen Fenster hinter ihm drangen die Schluchzer seiner Mutter.
Anvar lief mit pochendem Herzen durch die stillen, lampenerleuchteten Straßen. Es war ein langer Weg bis zum Fluß, und sein Atem ging stoßweise, als er sich endlich den Lagerhäusern näherte. Er hatte sich für eine Abkürzung entschieden, die ihn zu der Brücke führen sollte, die der Akademie am nächsten war. Es gab nur wenige Lampen in diesem Bezirk, und Anvar hatte Angst in den dunklen Gassen, auf deren schmutzbedeckten Pflastersteinen seine Füße immer wieder ins Rutschen gerieten. Er bedauerte bereits, daß er sich für diesen Weg entschieden hatte. Der Bezirk, in dem die Lagerhäuser lagen, hatte einen schlechten Ruf. Als er an der dunklen, stinkenden Einmündung einer winzigen Gasse vorbeikam, hörte er plötzlich ein Schlurfen, und mehrere zerlumpte Gestalten brachen aus den Schatten hervor. Als sie ihm den Weg abschnitten, konnte er gerade noch seinen Lauf bremsen. Sie umzingelten ihn, rückten näher, und der beißende Gestank ungewaschener Leiber ließ ihn würgen. Im dämmrigen Licht eines mit Lumpen verhangenen Fensters über ihm sah er das Aufblitzen von Messern in ihren Händen, und sein Mund wurde trocken vor Angst.