Der Flug durch den Schneesturm war weit schlimmer, als sie sich vorgestellt hatte. Sie konnte in den wirbelnden, weißen Wolken so gut wie gar nichts sehen. Der starke Wind zog und zerrte und rüttelte sie gnadenlos durch – mehrmals hätte er sie um ein Haar mit voller Wucht gegen die Mauern eines der vielen kunstvoll geschmiedeten Türme in der Stadt geschmettert. Wenn sie einen Augenblick Zeit gehabt hätte, um nachzudenken, hätte Rabe vielleicht Trost in der Erkenntnis finden können, daß ihre Flucht bei diesem Wetter gewiß unentdeckt blieb, aber sie brauchte jeden Funken ihrer Konzentration, um überhaupt in der Luft zu bleiben und nicht gegen irgendwelche Hindernisse zu krachen. Ihr Gefühl für die Richtung, in die sie flog, war hoffnungslos durcheinandergeraten, und sie konnte nur beten, daß sie geradeaus flog und nicht in einem Kreis, der sie schließlich in die Stadt zurückbringen würde – zu Schwarzkralle.
Rabe war bis auf die Knochen durchgefroren. Es war ein unbekanntes Gefühl, entschieden unerfreulich und erschreckend. Ihre Ohren und Zähne schmerzten in dem eiskalten Wind, und ihre Flügel waren steif und reagierten nur langsam. Selbst ihre Gedanken wurden träge und wirr. Wie lange war sie schon unterwegs? Warum war sie eigentlich hier draußen in diesem tödlichen Sturm? Woher war sie gekommen, und wohin flog sie? Wieviel länger noch würden ihre schmerzenden Flügel sie in der Luft halten?
Plötzlich traf Rabes linker Fuß auf etwas Hartes und Gezacktes. Er blieb hängen und verrenkte sich, so daß sie vornüberkippte und das Gleichgewicht verlor. Hilflos stürzte sie und rollte Hals über Kopf in einem Gewirr von Gliedmaßen und Flügeln bergab, wobei sie sich an den eisigen Felsen blaue Flecken und Schrammen holte, bis ihr Sturz endlich weiter unten in der Schneewehe ein unwürdiges Ende fand. Zu niedergeschlagen und erschrocken, um irgend etwas anderes zu tun, brach sie in Tränen aus.
»Wo bin ich?« Rabe öffnete die Augen. Einen Augenblick lang benebelte Angst ihre Gedanken, aber sie war nicht umsonst die Tochter einer Königin. Sie holte tief Luft und zwang sich zur Ruhe, bevor sie sich ihre Umgebung ansah. Aber es gab nur wenig zu sehen. Ihr schmerzender Körper war eingeklemmt in eine schmale Felsspalte, und eine Barriere aus herangewehtem Schnee versperrte den Ausgang. Nach und nach kehrten ihre Gedanken zu der vergangenen Nacht zurück, und sie schauderte angesichts der Erkenntnis, daß sie dem Tod nur um Haaresbreite entgangen war. Sie hatte tatsächlich einen Berg gerammt! Zögernd streckte sie ihr Bein aus, um ihren verletzten Fuß zu untersuchen, voller Angst vor dem, was sie finden würde. Es war auch schlimm genug. Die Riemen ihrer Sandale schnitten ihr in das geschwollene Fleisch, und ihr Bein war schlimm zerschunden und aufgeschürft. Sie biß die Zähne zusammen und wappnete sich gegen den Schmerz; dann schmolz sie etwas Schnee in ihren Händen, um die Abschürfungen zu säubern. Außerdem würde der Schnee vielleicht auch die Schwellungen etwas abklingen lassen, und solange sie fliegen konnte, war sie nicht vollkommen hilflos. Rabe keuchte, als sie sich an ihren Sturz bei der Landung erinnerte. Ihre Flügel … Sie hatte nicht genug Platz, um sie in der Felsspalte ausbreiten zu können! Mit verzweifelter Hast begann sie, sich einen Ausweg zu graben, wobei sie mit ihren Händen große Brocken Schnee beiseite schaufelte. Jetzt erinnerte sie sich auch schwach, daß sie in diese Nische gekrochen war, instinktiv, auf der Suche nach einer Zuflucht vor dem Unwetter. Der Ausgang schien weiter entfernt zu sein, als sie in Erinnerung hatte, aber endlich gaben auch die letzten Zentimeter Schnee ihrem entschlossenen Angriff nach, und sie stand plötzlich im Freien.
Mit Hilfe der Felsbrocken zog Rabe sich hoch und zuckte zusammen, als ihr verletzter Fuß den Boden berührte. Sie würde ihn eine ganze Weile nicht gebrauchen können, aber ihre Hauptsorge waren die Flügel. Sie stützte sich auf einen Felsbrocken, um das Gewicht zu halten, und breitete die einstmals glänzenden, schwarzen Schwingen aus. Sie waren steif, aber Rabe spürte keinen Schmerz, und anscheinend hatten ihre Flügel kaum Schaden genommen. Sie hatte einige Federn verloren, und ihr Gefieder war insgesamt arg mitgenommen und verdreckt, aber der Schnee hatte das Schlimmste bei ihrem Sturz verhindert. Mit einem tiefen Atemzug schwang sie sich, so gut sie das mit ihrem verletzten Bein konnte, in die Höhe. Sie verlor das Gleichgewicht und wäre beinahe der Länge nach auf den Boden gefallen, aber zu ihrer Erleichterung zogen ihre Flügel ihr Gleichgewicht in die Höhe, und sie begann, sich mit gleichmäßigen Schlägen in die Luft zu schrauben. Nun, da sie ihre größte Sorge hinter sich gelassen hatte, wollte sie sich umsehen und entscheiden, was sie als nächstes tun würde.
Der Himmel war ein herrlicher Anblick, nachdem sie so lange nichts als graue Wolken gesehen hatte. Rabe schwelgte in dem sanften Rosa, dem zarten Grün, dem durchscheinenden Blau und dem schwindelerregenden Gold des Sonnenuntergangs. Die Schönheit des Himmels schlug sie so in ihren Bann, daß es eine ganze Weile dauerte, bis sie auch hinunterblickte auf die Erde, aber als die Farben am Himmel schließlich erblaßten, war sie maßlos erstaunt, sie auf der Erde unter sich wiederzufinden. Einen Augenblick lang war ihr schwindelig, und sie verlor die Orientierung, aber als sie direkt nach unten sah, konnte sie das Plateau erkennen, von dem sie losgeflogen war. Sie war auf dem letzten der Berge gelandet. Die Schneedecke dort wurde dünner und verschwand auf der anderen Seite schließlich vollkommen, so daß nur dunkle, weit verstreute Felsbrocken übrigblieben, die sich einem dunklen, unheimlichen Wald entgegenstrecken. Dahinter breitete sich, soweit das Auge sehen konnte, das Meer der Farben des Sonnenuntergangs aus. Rabe hielt den Atem an. Sie war also nach Süden gekommen, und dies hier war die legendäre Juwelenwüste!
Das geflügelte Mädchen kehrte zu dem Felsplateau zurück, um sich auszuruhen. Nach den Anstrengungen der vergangenen Nacht wurde sie schnell müde, und außerdem mußte sie nachdenken – und essen. Da sie keine Erfahrungen im Reisen hatte, machte sie sich gierig über den Inhalt ihrer Tasche her, ohne einen Gedanken zu verschwenden, woher sie die nächste Mahlzeit nehmen sollte. Beim Essen dachte sie über ihren nächsten Schritt nach. Rabe hatte den Palast verlassen, ohne eine Idee zu haben, wo sie hingehen würde oder wie sie leben wollte.
Zum ersten Mal bekam sie wirklich Angst. Was, wenn die Leute hier so waren wie Schwarzkralle oder gar noch schlimmer? Aber der Gedanke an den Hohepriester und das Schicksal, das sie an seiner Seite erwartet hätte, war genug, um ihre Entschlossenheit zu stärken. Sie würde jedoch Hilfe finden müssen. Rabe war eine verwöhnte Prinzessin, und sie hatte Verstand genug, um zu begreifen, daß sie keine Ahnung hatte, wie man allein überlebte. Außerdem, so sagte sie sich, wenn man mich bedroht, kann ich ja immer noch wegfliegen. Die Frage des Wohin war leicht beantwortet. Sie konnte nicht nach Norden zurückkehren. Dort würden sie jetzt nach ihr suchen. Der Gedanke an mögliche Verfolger ließ sie schaudern. Es war lebenswichtig, daß sie sofort weiterreiste, und zwar nach Süden, weg von den Bergen ihrer Geburt. Der funkelnde Sand schien genug Licht zu geben, so daß sie bei Nacht reisen konnte. Also holte Rabe noch einmal tief Luft, streckte ihre Flügel aus und schwang sich in die Luft nach Süden, über die glühende Wüste hinweg.