31
Dhiammara
»Heil dir, holde Dhiammara!«
»Du machst Witze!« Aurian wandte sich in offenkundiger Ungläubigkeit an Yazour. Am achtzehnten Abend ihrer Reise hatte die Schönheit der Wüste langsam an Reiz verloren. Der Juwelenstaub saß überalclass="underline" in ihrem Haar, in ihrer Kehle, in ihren Kleidern – und weil die Oasen, die sie besucht hatten, die einzigen Quellen des lebenswichtigen Trinkwassers in der Wüste waren, durfte dort nicht gebadet werden. Die Magusch fühlte sich unaussprechlich schmutzig, und ihr ganzer Körper juckte. Ihr Baby stahl ihr den Löwenanteil von ihren schmalen Essensrationen, so daß sie einen ständigen Heißhunger hatte, obwohl Bohan und Anvar ihr jedesmal etwas von ihrem eigenen Essen aufzwangen. Die intensiven Unterrichtsstunden mit Anvar hatten sie beide um einen großen Teil des so dringend benötigten Schlafs gebracht, und Aurian war müde und reizbar. Ihre Augen brannten von dem Flirren des Sandes. Sie war ganz eindeutig nicht in der Stimmung für irgendwelche Scherze.
Aurian ließ ihr Pferd in eine langsamere Gangart fallen, hob sich den Schleier von den Augen und blinzelte in das funkelnde Licht. Dort, als Silhouette gegen den mondhellen Himmel, ragte ein einsamer Berg auf – ein Berg von einer unglaublichen Höhe. Sein Gipfel war seltsam abgeflacht, als wäre er von einem gewaltigen Schwert abgehackt worden, und die steilen Bergwände funkelten mit einer spiegelartigen Helligkeit, als hätte jemand sie poliert. Das ganze Gebilde zeigte keine Anzeichen von Verwitterung, und auch das war an diesem Ort der sengenden Sandstürme ein Ding der Unmöglichkeit. »Das ist kein natürlicher Berg!« rief sie anklagend aus.
»Da gebe ich dir recht, aber niemand kennt seine Geschichte«, erwiderte Yazour. »Aus der Nähe sind seine Ausmaße geradezu atemberaubend. Er sieht jetzt schon gigantisch aus, aber Entfernung ist in der Wüste immer etwas Trügerisches.«
Er hatte recht, wie Aurian später herausfinden sollte. Es bedurfte noch eines harten, stundenlangen Rittes, bevor sie die turmhohe Bergspitze erreichten, und als sie sich ihren steilen Wänden näherten, wurde der Horizont langsam hell. Der Berg war gewaltig, wobei der Umstand, daß das Land um ihn herum vollkommen flach war, den Eindruck seiner Größe noch steigerte. Der schlanke Bergkegel stieg aus dem ihn umgebenden Sand empor wie eine Insel im Meer. Während der letzten Meilen ihres Rittes war es unmöglich gewesen, das ganze Gebilde im Auge zu behalten, und nun, als sie an seinem Fuße angekommen waren, konnten sie nur noch eine vertikale Wand aus dunkel glänzendem Fels sehen, die sich meilenweit nach oben und zu den Seiten hin erstreckte. Yazour ritt ihnen voraus. Er galoppierte ein Stück an der wie poliert wirkenden Wand entlang, und bald sah auch Aurian den dunkleren Schatten auf dem Stein – eine schmale Öffnung, die gerade hoch genug war, um ein Pferd hindurchzulassen.
Einer nach dem anderen führten die Reiter ihre Tiere durch den Eingang und hinein in die dahinterliegende, kühle Dunkelheit. Dann wurden Fackeln entzündet, die an einer Seite der Öffnung aufgestapelt lagen, und in die Halter an den Wänden gesetzt. Als es langsam heller wurde, sah Aurian sich ungläubig um. Die Höhle war ungeheuer groß, und ihre Decke verlor sich im Dunkel, das über ihnen herrschte. Zu ihrer Linken nahmen zwei Wasserbecken die Hälfte des Platzes auf dem Boden ein; das höhere befand sich auf einem Felsvorsprung, von dem das Wasser in einem schmalen Rinnsal in das darunterliegende floß. Eine steinerne Rampe führte zu dem oberen Becken, wo man die Pferde und die Maultiere zum Trinken hinführte. Der Boden der Höhle bestand aus flachem Fels, auf dem sich mancherorts funkelnder Juwelensand fand, den der Wind hineingeweht hatte. Dieser Sand, zusammen mit dem Widerschein der glasigen Wände, verstärkte das Licht der Fackeln beträchtlich.
»Dieser Ort ist unglaublich!« Anvar, der neben der Magusch stand, sah sich mit weit aufgerissenen Augen um.
»Das untere Becken dient zum Baden«, sagte Yazour. »Wir haben immer einen guten Vorrat an Nahrungsmitteln und Brennmaterial hier, so daß wir unsere Vorräte ergänzen können, und heute werden wir ein Festessen veranstalten – jedenfalls wird es uns so vorkommen, nach all dem Fasten der letzten Zeit. Wir werden hier zwei oder drei Tage Rast machen, bevor wir Weiterreisen.«
»Wunderbar!« Aurian lächelte zu ihm auf, und in ihrem Blick lag eine stillschweigende Entschuldigung für ihre Launenhaftigkeit in den letzten Tagen. »Ich hätte nie gedacht, daß ich das Reiten einmal leid werde, aber im Augenblick würde ich am liebsten nie wieder ein Pferd zu Gesicht bekommen. Ich könnte jemanden ermorden für ein Bad, eine heiße Mahlzeit und genug Schlaf.«
»Das sollst du alles bekommen.« Anvar legte seinen Arm um sie und führte sie nach rechts, wo eine Reihe kleiner Feuer brannte, die man in der Nähe eines Entlüftungsspaltes im Felsen errichtet hatte, der den Rauch aus der Höhle herauszog.
Seit Anvar wieder Herr über seine Kräfte war und begonnen hatte, von der Magusch zu lernen, hatte ihre Beziehung sich ganz allmählich verändert. Alle außer Bohan und Shia, die in ihr Geheimnis eingeweiht waren, akzeptieren ihn als Aurians Mann, aber selbst wenn die beiden allein waren, war Anvars alte Unterwürfigkeit verschwunden, und seine Entschlossenheit ging nun sogar so weit, daß er ihr keine andere Wahl gelassen hatte, als das zusätzliche Essen von ihm und dem Eunuchen anzunehmen. Aurian hatte zu ihrer Überraschung festgestellt, daß ihr Anvars neues Selbstbewußtsein nicht das geringste ausmachte. Seit ihrer Flucht aus Nexis war sie immer gezwungen gewesen, die Starke zu sein, diejenige, auf der die ganze Verantwortung für ihre gefährliche Reise lastete, und sie empfand es nun als große Erleichterung, jemanden zu haben, mit dem sie diese Bürde teilen konnte. Obwohl ihr gelegentlicher Mangel an Geduld als Lehrerin zusammen mit ihrer beider Müdigkeit zu so manch scharfem Wort zwischen ihnen führte – Anvar war von der gleichen Maguschsturheit wie sie –, hatte sich eine enge und tröstliche Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, die viel dazu beitrug, das Gefühl der Einsamkeit zu lindern, die ihrer beider Fluch war.
Die Magusch teilten sich ein Feuer mit Eliizar und Nereni. Während sie darauf warteten, daß das Abendessen fertig wurde, unterhielten sie sich miteinander; sie waren froh, nach der erzwungenen Isolation der Wüstenlager endlich wieder einmal die Möglichkeit dazu zu haben. Eliizar schien, nachdem er die Arena hinter sich gelassen hatte und wieder unter Soldaten war, wo er hingehörte, während der Reise um Jahre jünger geworden zu sein. Sein gesundes Auge glühte vor Begeisterung, als er von der Wüste sprach, die er so sehr liebte. Nereni, vierschrötig und stets lächelnd, war genauso froh darüber, von der Arena weggekommen zu sein. Sie betrachtete ihre Reise jedoch als eine ‘ schwere Prüfung. Aurian konnte sie gut verstehen. Wenn sie, Aurian, eine geübte Reiterin, schon von dem vielen Reiten erschöpft war, wagte sie es sich kaum vorzustellen, welch eine Tortur es für eine Anfängerin wie Nereni sein mußte. Anvar hatte während seiner Zeit in der Akademie kaum Gelegenheit zum Reiten gehabt, nur wenn Aurian ab und zu einen Auftrag für ihn erfunden hatte, um ihm ein wenig Bewegung zu verschaffen – und so kam es, daß auch er unter den Strapazen des langen Rittes mehr als die anderen zu leiden hatte.
»Für dich mag es ja gut und schön sein«, neckte er Nereni und warf einen vielsagenden Blick auf ihr gerundetes Hinterteil. »Du hast wenigstens ein Polster zwischen dir und dem Sattel.« Sie warf einen Löffel in seine Richtung, so daß er schnell zur Seite ausweichen mußte, und alle vier brachen in lautes, fröhliches Gelächter aus. Bohan, der sich um die Pferde gekümmert hatte, gesellte sich zum Essen zu ihnen, ebenso wie Shia, die die Höhle erkundet hatte.
»Es gefällt mir hier nicht«, sagte sie zu Aurian. »Ich sehe nichts, aber es fühlt sich – kribbelig an.«