Die Magusch, ganz versessen auf Nerenis köstlich gewürzten Eintopf, schenkte Shia keine große Aufmerksamkeit. »Vielleicht hast du Sand im Fell«, erwiderte sie geistesabwesend, und schon bald hatte sie diese Unterhaltung wieder vergessen, ohne zu wissen, daß sie sich später noch schmerzlich daran erinnern würde. Nun, da sie von dem guten Essen gesättigt war, stellte sie fest, daß ihre Augen sich weigerten, noch länger offenzubleiben. Die Umrisse der Flammen schienen zu tanzen und sich zu verwischen, und das leise Geräusch der Unterhaltungen um sich herum verblaßte immer mehr.
»Hier, du Schlafmütze. Mach es lieber gleich richtig.«
Sie blinzelte. Anvars Stimme riß sie in die Wirklichkeit zurück. Er hielt ihr eine Decke hin. »Ich will aber noch baden«, protestierte sie, doch ihre Worte gingen in einem Gähnen unter.
»Das kannst du morgen immer noch. Mir macht es nichts aus, mit einer schmutzigen Frau im selben Bett zu schlafen.«
»Du bist genauso schmutzig«, begann Aurian entrüstet und verfiel in unwilliges Schweigen, als ihr die Bedeutung seiner Worte aufging. Ohne den Schutz des Zeltes würden sie die Scharade ihrer Ehe jetzt folgerichtig fortsetzen müssen. Warum war es ihr nie in den Sinn gekommen, daß solch peinliche Situationen entstehen konnten?
»Es ist schon gut«, sagte Anvar sanft und wickelte ihr die Decke fest um die Schultern. Dann legten sie sich hin, und er nahm sie in seine Arme. Die Wärme seines Körpers tat gut nach der kühlen Luft der Höhle, und schon bald überließ sie sich schläfrig seiner Umarmung. Als Aurian langsam in Schlaf versank, schmerzte ihr Herz vor Sehnsucht nach Forral.
Der Duft, der sie mit unwiderstehlicher Verführungskraft weckte, erinnerte sie so stark an die Arena, daß sie, als sie die Augen öffnete, erwartete, die weißgetünchten Wände ihrer alten Zelle um sie herum zu sehen. Statt dessen sah sie Anvar, der ihr eine dampfende Tasse hinhielt. »Ich habe eine Überraschung für dich«, sagte er. »Dein Freund Eliizar hat sich seinen eigenen Vorrat an –«
»Liafa!« Aurian strahlte und streckte gierig die Hand nach der Tasse aus.
»Und ich dachte, Eliizar hätte übertrieben, als er mir erzählte, wie sehr du dieses Zeug liebst. Es ist das erste Mal, daß ich dich so früh am Morgen lächeln sehe!«
Aurian streckte ihm die Zunge raus. »Manche scheinen mit der Morgenstunde ja ganz gut zurechtzukommen. Du siehst aus, als wärst du schon vor einer ganzen Ewigkeit aufgestanden.«
Anvar grinste. »Die Männer haben schon gebadet – da sie die Frühaufsteher hier zu sein scheinen.« Alle Spuren des funkelnden Staubs waren von seiner Haut verschwunden. Sein während der Sklaverei gewachsenes Haar war nun vom Wasser lockig und dunkler geworden, und um sich die feuchten Strähnen aus dem Gesicht zu halten, hatte er Yazour nachgeahmt und die widerspenstigen Locken mit einem Riemen im Nacken zusammengehalten. Es stand ihm gut, dachte Aurian.
»Was starrst du mich so an? Ist mir irgendein Fleck entgangen?«
»Was, ich? Ach, nichts«, Aurian errötete. »Ich hatte nur vergessen, wie du unter diesem ganzen Staub aussiehst.«
»Nun, jetzt sind die Frauen dran, also solltest du dich besser beeilen, wenn du deinen eigenen Schmutz auch noch loswerden willst.«
Sie stellte die leere Tasse ab. »Es ist wirklich schade. Ich muß im Augenblick ein ganzes Vermögen an Juwelen wert sein.« Nereni war in dem Becken und spritzte und lachte mit den anderen Frauen aus Harihns Haushalt. Die Magusch warf ihre staubigen Kleider ab und trat ins Wasser. Es war nicht so kalt, wie sie erwartet hatte, und obwohl es seicht genug war, um darin zu stehen, war es auch tief genug, um zu schwimmen. Am Boden hatte sich eine weiche Schicht aus Juwelenstaub gebildet, zweifellos stammte sie von Generationen staubiger Reisender. Der Staub glitzerte unter ihren Füßen und warf das Fackellicht von den Wänden zurück. Nereni watete zu ihr herüber und gab ihr ein Stück grober Seife.
»Richtige Seife! Nereni, du denkst aber auch an alles.«
»Aber natürlich – was auch ein Glück für euch Krieger ist.« Ihr plumpes Gesicht bekam Grübchen. »Jetzt muß ich mich aber beeilen, um die Tagesmahlzeit vorzubereiten. Doch vorher hole ich dir noch ein Handtuch, damit du dich abtrocknen kannst, und ein paar saubere Kleider.«
Als Nereni gegangen war, begann Aurian sich gründlich zu waschen, froh darüber, endlich den Staub aus den Haaren zu bekommen. Meine Haare wachsen auch langsam wieder, dachte sie. Vielleicht kann ich Anvar schon bald bitten, sie für mich zu flechten. Als sie fertig war, hatten die anderen Frauen das Becken bereits verlassen, nur Aurian blieb noch eine Weile im Wasser und genoß den Frieden und die Einsamkeit. Schließlich trat sie jedoch, von ihrem Hunger getrieben, unter den kleinen Wasserfall, wo sie sich abspülen wollte, bevor sie das Becken verließ.
Die Magusch argwöhnte keine Gefahr, bis es zu spät war. Als sie ihre Hand auf die glatte Mauer legte, wo der Wasserfall heruntertröpfelte, zerriß ein schriller, langgezogener Schrei die Luft. Es war wie das Kreischen eines riesigen, aller Vorstellung unzugänglichen Tieres in höchster Qual. Der Fels schien unter ihren Fingern lebendig zu werden, fing ihre Hände und ihre Arme ein und sog ihren Körper unerbittlich in sein weiches, klebriges Maul. Aurian wurde trotz all ihrer Gegenwehr in die dahinterliegende Dunkelheit gerissen. Binnen Sekunden hatte sich die Wand hinter ihr geschlossen und war nun wieder leer und gesichtslos.
Anvar rannte auf das Becken zu, bevor noch die ersten grauenhaften Echos erstorben waren. Yazour und Eliizar waren mit gezogenen Waffen dicht hinter ihm. Als sie den Rand des Beckens erreichten, taumelte Anvar durch das Wasser hindurch und suchte nach irgendeiner Spur von der Magusch. Als die anderen sich zu ihm gesellten, machte Yazour sich daran, unter die Oberfläche zu tauchen und dort nach Aurian zu suchen, während Eliizar mit kräftigen Zügen durch das Becken schwamm. Dann verstummte der Tumult von einem Augenblick auf den anderen, und nur Anvars angstvolle Schreie waren noch zu hören.
»Aurian! Aurian!«
Die Atmosphäre im Lager war von einer ängstlichen Gespanntheit. Die Frauen und Kinder kauerten sich weit entfernt von dem finsteren Becken in einer Ecke zusammen, und vor ihnen standen bewaffnete Krieger, um sie zu beschützen. Eine Gruppe Bogenschützen hatte ihre Pfeile auf das stille Wasser gerichtet, bereit, beim ersten Zeichen eines Kräuselns der glatten Oberfläche zu schießen. Ein grimmiger Rat hatte sich am Feuer des Prinzen versammelt, und Harihn sah ängstlich von einem zum anderen. »Irgendein wildes Tier muß sie geholt haben«, beharrte er. »Was sonst hätte das sein können?«
»Sir, das Becken war leer«, protestierte Yazour. »Ich habe es gründlich durchsuchen lassen, und es gibt keinen Zugang unter Wasser. Außerdem gibt es kein Blut und keine Spur irgendwelcher Überreste von Aurian.«
»Nein!« rief Anvar. Die Tasse mit heißem Liafa, die Nereni ihm aufgedrängt hatte, ergoß sich über die Decke, die sie ihm um seine zitternden Schultern gelegt hatte. Yazour sah ihn entschuldigend an, und Nereni nahm mit tränenüberströmtem und von tiefem Mitleid erfülltem Gesicht seine Hand.
»Irgend etwas muß jedenfalls dagewesen sein«, beharrte Harihn mit einem nervösen Blick auf das Becken. »Was sonst hätte solche schrecklichen Schreie ausstoßen können? Und was ist, wenn es zurückkehrt? Müssen erst noch andere sterben, um dich zu überzeugen?«
»Es gibt keinen Beweis dafür.«
»Wir könnten noch einmal suchen.« Eliizar und Yazour, die beide vollkommen durchnäßt waren und in ihren Decken zitterten, sprachen gleichzeitig, aber Anvar hörte den Zweifel in ihren Stimmen. Harihn schüttelte den Kopf und stand auf. »Es ist sinnlos. Sie ist gewiß tot. Bereite alles zum Aufbruch vor, Yazour. Wir können es nicht wagen, hier noch länger zu verweilen.«
»Du Mistkerl!« Anvar schleuderte seine Decke weg, machte einen Satz über das Feuer und versetzte dem Prinzen einen Kinnhaken. Der Schlag, hinter dem das ganze Gewicht seines Körpers lag, warf Harihn der Länge nach zu Boden. Anvar setzte sich rittlings auf den Prinzen und schlug in wilder Wut auf ihn ein. »Feigling!« schrie er. Er spürte zwar die Schläge auf seinem Körper, aber sein Zorn machte ihn unempfindlich für die Schmerzen. Nach all den Kränkungen und Beleidigungen Harihns, nach seiner Arroganz und Feindseligkeit plante er jetzt auch noch, zu fliehen und Aurian ihrem Schicksal zu überlassen. Anvar hätte ihn am liebsten in den Boden gestampft. Er fühlte starke Arme um sich, die ihn von dem Prinzen wegzogen. Anvar kämpfte gegen diese neuen Gegner mit ungebremstem Zorn und widersetzte sich ihren Versuchen, ihn zu Boden zu werfen, bis ein Guß kaltes Wasser ihm ins Gesicht schlug. Der Schreck brachte ihn sofort wieder zu Verstand. Eliizar und Yazour hielten ihn fest. Nereni stand über ihm, eine tropfende Schüssel in den Händen.