»Solange es dir nur gutgeht«, sagte Anvar, »dir und dem Kind.«
Aurian sah ihn voller Zuneigung an. »Wir scheinen unversehrt zu sein dank euch dreien. Die Frage ist, was machen wir jetzt? Dieser Mistkerl Harihn hat uns hier festgesetzt. Wenn wir in diesem Tunnel nicht irgend etwas finden, das uns hilft, werden wir verhungern. Außerdem, Anvar …« Ihre Augen leuchteten vor Erregung. »Weißt du denn nicht, was dieser Ort hier sein muß? Die Kristalle, das Metallding, das unempfänglich für Magie ist – das alles weist auf eines hin: Wir haben die verlorene Zivilisation des Drachenvolkes gefunden! Es muß hier Artefakte geben – Wissen, Waffen, und vielleicht sogar das Schwert des Feuers selbst –, und das alles könnten wir gegen Miathan einsetzen.«
Anvar schüttelte verzweifelt den Kopf. »Du gibst niemals auf, nicht wahr? Und was ist, wenn wir noch mehr von diesen Spinnenungeheuern finden? Was ist, wenn es noch Schlimmeres hier gibt?«
»Glaubst du, ich hätte nach meiner letzten Erfahrung keine Angst vor diesen Spinnenwesen?« Aurian zuckte mit den Schultern. »Aber um ehrlich zu sein, Anvar, sehe ich keine andere Möglichkeit. Wir können gewiß nicht auf demselben Weg zurückgehen, auf dem wir hergekommen sind. Der einzige Weg führt hindurch.«
Obwohl sie sich alle nach etwas Schlaf sehnten, beschlossen sie, sofort weiterzugehen. Sie hatten nur wenig Nahrung bei sich, und trotz ihres Mangels an Wissen über diese Bergfeste konnten sie nichts gewinnen, indem sie sich noch länger hier aufhielten. Der einzige Ausgang aus dem langgestreckten Raum war eine hohe, gewölbte Öffnung am anderen Ende. Eine breite Rampe hob sich mit einer sanften Steigung zu einem Tunnel hin, dessen Dach spitz zulief wie der Torbogen und hoch über ihren Köpfen lag. Shia ging voran, die beiden Magusch folgten ihr gemeinsam in unausgesprochener Übereinstimmung. Bohan bildete mit gezücktem Schwert die Nachhut. Anvar hatte Aurian ihre Ausrüstung zurückgegeben, und sie war erleichtert, das vertraute Gewicht ihres Schwertes wieder auf ihrer Hüfte zu spüren. Liebevoll strich sie über den abgenutzten Griff. Ach, mein Coronach, dachte sie. Wieviel wir schon gemeinsam durchgemacht haben, du und ich. Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, als sie sich an diesen Tag erinnerte, an ihren lange vergangenen Geburtstag, als Forral ihr das Schwert geschenkt hatte. Unbewußt fuhr ihre Hand zu ihrem Bauch. Würde ihr Kind lange genug leben, um jemals ein Schwert zu schwingen?
»Aurian?« Anvars Augen blickten ängstlich.
»Mir geht es gut.« Die Magusch umklammerte ihren Stab noch fester und tat ihr möglichstes, um ihre melancholischen Gedanken abzuschütteln.
An die Stelle des beunruhigenden, roten Lichtes im letzten Raum war nun ein sanftes, bernsteinfarbenes Glühen getreten, das einem Netzwerk leuchtender Adern entströmte, die sich durch den glatten, nahtlosen Stein des Durchgangs zogen. Die Luft strich ohne jeden Hauch von Feuchtigkeit oder Moder über ihre Gesichter, und die Wände sowie der Fußboden zeigten kaum Spuren von Spinnenweben oder Staub. Das irritierende Summen war während ihres Aufstiegs immer schwächer geworden. Aurian stellte fest, daß sie sich ein wenig entspannte. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie sehr das hohe Summen sie gestört hatte, bis es endlich verschwunden war.
»Weißt du«, sagte sie zu Anvar, »es ist wie eine Wendeltreppe, nur daß es keine Stufen hat. Ich schätze, mit Stufen hätten die Drachen ihre Schwierigkeiten gehabt. Aber wenn dieser Korridor einen Rückschluß auf ihre Ausmaße zuläßt, dann müssen sie noch größer gewesen sein, als ich dachte.«
Er nickte düster. »Und noch mächtiger, als wir gedacht haben, wenn sie diesen Ort und dieses Metallgeschöpf schaffen konnten. Wir sollten sehr vorsichtig sein.«
Es war nur allzu leicht, jegliches Zeitgefühl zu verlieren, während sich der immer gleich aussehende Tunnel nach oben schraubte. Nach einer Weile kamen sie an Räumen vorbei, die links und rechts vom Tunnel lagen. Zu Aurians Enttäuschung waren einige mit großen Türen aus Metall oder Kristall verschlossen, die weder Gewalt noch Magie nachgaben. Andere Räume waren türlos oder standen offen, aber ob sie nun groß oder klein waren, alle waren vollkommen leer, und ihre einzige Beleuchtung stammte von dem schummrigen Steinglühen des Durchgangs, das durch die breiten Eingänge schien. Shia hatte keine weiteren Anzeichen für Magie zu vermelden.
»Was für ein lächerlicher Ort ist das hier?« beklagte Aurian sich, während sie wieder einmal eine verlassene Kammer erkundeten. »Was hat das alles für einen Sinn?« Sie fühlte sich bleischwer vor Erschöpfung, und ihre Kopfschmerzen waren zurückgekehrt.
»Wie, zum Kuckuck, soll ich das wissen?« fuhr Anvar sie an. Dann sackte er neben ihr zusammen und rieb sich mit den Knöcheln seiner Hände die angeschwollenen Augen.
Die Magusch warf einen scharfen Blick auf seine zusammengesunkene Gestalt und bemerkte zum ersten Mal, daß Bohan genauso müde aussah. »Wie lange ist es her, daß ihr das letzte Mal geschlafen habt?«
Er stöhnte. »Tage – ich erinnere mich nicht genau. Nicht, seit du verschwunden bist.«
»Anvar! Warum hast du mir das nicht gesagt?« Aurian nahm seinen Arm und führte ihn in den hinteren Teil eines kleinen Raumes, wo sie ihn an eine der Wände setzte. »Dieses Zimmer hier ist so gut wie jedes andere. Wir werden hier Rast machen.«
Sie nahmen jeder einen kleinen Schluck Wasser aus dem, dahinschwindenden Vorrat ihres Wasserschlauches, und Anvar goß ein wenig davon in Aurians gewölbte Hände, damit Shia es auflecken konnte. Die Magusch bestand darauf, die erste Wache zu übernehmen. »Ich habe in der ganzen Zeit, in der ihr nach mir gesucht habt, gar nichts getan«, sagte sie zu ihren Freunden. »Es ist nur fair.« Keiner hatte die Energie, ihr zu widersprechen.
»Weck als nächstes mich«, sagte Shia zu ihr. »Wir können uns die Wache teilen. Ich brauche weniger Ruhe als ihr schwachen Zweibeiner.«
Als alle anderen fest eingeschlafen waren, setzte Aurian sich mit griffbereitem Schwert an den Eingang. Sie begann, die Zeit zu zählen, indem sie die Sekunden mit ihrem Dolch auf ihre Handfläche schlug und jedesmal, wenn eine Minute vergangen war, die Hand wechselte – aber schon bald gab sie wieder auf. Das Zählen lullte sie ein, und sie stellte fest, daß sie immer wieder einnickte. Statt dessen dachte sie an ihr Kind. Es mußte jetzt etwa fünf Monate alt sein, obwohl es schwer war, den genauen Zeitpunkt seiner Zeugung zu bestimmen. Den Maguschfrauen wurde es früh beigebracht, die monatlichen Zyklen zu unterdrücken, die den Sterblichen eine solche Last waren. Für gewöhnlich stellten sie ihre Schwangerschaft nach dem zweiten Monat fest, und Aurian glaubte, daß es bei ihr ebenfalls so gewesen war. Und ganz gewiß hatte sie die Gegenwart des Kindes gespürt, nachdem man sie darauf aufmerksam gemacht hatte. Es wird jetzt nicht mehr lange dauern, dann werden meine Kräfte ganz verschwinden, dachte sie, und was tun wir dann? Das heißt, wenn wir überhaupt jemals hier herauskommen. Was konnte Harihn nur zu einem solchen Verrat bewogen haben? Habe ich ihn wirklich so falsch eingeschätzt?
Die Magusch fragte sich, was inzwischen wohl in Nexis geschehen sein mochte. Miathan würde die Macht des Kessels benutzen, um die Sterblichen, die er so sehr verachtete, zu unterdrücken, mit Eliseth, Bragar und Davorshan als bereitwilligen Komplizen. Was war aus ihren Freunden geworden? Hatten Vannor und Parric überlebt? Was war mit Maya und D’arvan und ihrer Mutter? Während die Armreifen ihre Kräfte gelähmt hatten, war es für sie unmöglich gewesen, zu bemerken, ob einer der Magusch gestorben war. Sie erzitterte trotz der warmen Luft des Raumes und sehnte sich nach Forrals dickem, altem Umhang, den sie bei dem Schiffbruch verloren hatte. Sein vertrautes Gewicht auf ihren Schultern war ihr immer ein Trost gewesen. Aber der Umhang und Forral waren nicht mehr da, ihr war kalt, und sie war allein in diesem dunklen Zimmer.
Aurian, verloren in traurige Gedanken, schreckte auf, als eine schwarze, kalte Nase ihr Gesicht streifte. »Habe ich es mir doch gedacht«, sagte Shia. »Du schläfst ja fast. Es wird Zeit, daß ich die Wache übernehme.«