»Gib uns dein Geld, Junge«, knurrte eine Stimme mit einem unvertrauten Akzent. Anvar wich zurück, bis die Mauer ihn aufhielt.
»Ich – ich habe keins bei mir«, stammelte er. »Bitte laßt mich gehen. Ich will zur Heilerin – es ist ein Notfall.« Jenseits aller Vernunft flackerte Forrals Gesicht vor seinem inneren Auge auf, als er die Worte des großen Mannes wiederholte.
Der Strauchdieb lachte. »Meine Güte, was für ein großer Herr! Auf dem Weg zur Heilerin, hm? Und ohne Geld? Durchsucht ihn, Jungs!«
Anvar wurde zu Boden geworfen. Grobe, knochige Finger durchstöberten seine Kleider und jagten ihm eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Er hatte gerade noch Zeit für einen gewaltigen Hilfeschrei, bevor sie begannen, auf ihn einzuschlagen.
Der Alptraum fand ,ein jähes Ende, als das Klappern von Hufen durch die Gasse hallte. »Berittene!« schrie jemand. »Weg hier!«
Plötzlich war Anvar ganz allein und bemühte sich, zerschunden wie er war, aufzustehen.
Eine Hand packte ihn am Kragen, und er wurde unsanft auf die Füße gerissen. »Hab ich dich erwischt!« Anvar blickte in das ernste Gesicht eines hochgewachsenen Soldaten. »Was hattest du vor, Bursche, hm?« fragte ihn der Mann mit krächzender Stimme.
»Bitte, Herr«, stammelte Anvar, der sich in der eisernen Umklammerung des Mannes wand. »Sie sind auf mich losgegangen. Ich wollte zur Akademie, um die Heilerin …«
Der Soldat brach in lautes Gelächter aus. »Na komm schon, kannst du dir denn keine bessere Geschichte ausdenken? Glaubst du, ich lebe hinterm Mond?« Er zerrte Anvar zum Ende der Gasse, wo an einer eisernen Konsole eine einsame Lampe von der Wand hing. Als er sich Anvar näher angesehen hatte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. »Du kommst nicht hier aus der Gegend«, stellte er anklagend fest. »Was hat ein Junge wie du mitten in der Nacht in diesem Bezirk verloren? Bist du denn nicht ganz bei Trost?«
Zögernd erzählte Anvar ihm von seinem Großvater.
Der Soldat ließ seinen Kragen los. »Junge«, sagte er sanft, »die Lady Meiriel gibt sich nicht mit Leuten wie deinem Großvater ab. Weißt du denn nicht, wie die Magusch sind?«
»Ich muß es wenigstens versuchen«, sagte Anvar. »Warum sollte sie ihm nicht helfen wollen? Vor einiger Zeit habe ich diesen Mann namens Forral getroffen und …«
»Du kennst Forral?« Ein Ausdruck tiefen Respekts huschte über das zerfurchte Gesicht des Soldaten.
»Wir sind uns auf der Straße begegnet – er hat mein Pferd genommen. Er sagte, er wolle zur Heilerin, um einem kleinen Mädchen das Leben zu retten. Wenn sie das tun konnte, warum sollte sie dann nicht auch meinem Großvater helfen?«
Der Soldat seufzte. »Junge, weißt du denn nicht, wer Forral ist? Er ist eine lebende Legende – der größte Schwertkämpfer der Welt –, und er ist mit einigen der Magusch befreundet. Das Mädchen war die Tochter von Eilin, der Lady vom See. Wir haben in der Garnison davon gehört. Nun, ich weiß nicht einmal, ob die Lady Meiriel schon zurück ist – das Tal ist weit von hier entfernt, hoch oben im Norden. Es tut mir leid, mein Sohn, aber selbst wenn sie schon zurück ist, wird sie sich nicht zu dieser späten Stunde für irgend jemandes Großvater auf den Weg machen.«
»Aber wenn ich nur erklären könnte …« Anvar ließ sich so leicht nicht ins Bockshorn jagen.
»Nun, sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« Der Soldat klang resigniert. »Na komm, ich nehme dich auf meinem Pferd mit. Wenn du allein dort raufgehst, werden die Magusch dich wahrscheinlich erst noch für deine Unverschämtheit auspeitschen, bevor sie dich rauswerfen.«
Die Hufschläge hallten laut über den Damm, der hinüber zum Felsen der Magusch führte, als Anvar und der Soldat sich langsam dem weißen Tor näherten. Der Torhüter war ein alter Mann – ein Sterblicher wie alle Diener der Magusch. Als Anvars neuer Freund ihm erklärte, warum sie gekommen] waren, sah der Mann sie nur ungläubig an. »Was? Macht ihr Witze? Die Lady Meiriel ist gerade erst von einer langen Reise nach Hause gekehrt. Ich werde mich hüten, sie zu stören. Und du solltest wirklich mehr Verstand haben, Hargorn, als den Jungen hier heraufzubringen.«
»Ich weiß, aber das hier ist ein ganz besonderer Fall«, beharrte Hargorn. »Das ist der Junge, der Forral sein Pferd gegeben hat. Nun, wenn er nicht gewesen wäre, wäre das kleine Maguschmädchen vielleicht doch gestorben, bevor die Heilerin zu ihr kommen konnte. Das ist doch sicherlich ein Punkt, der eine gewisse Überlegung verdient.«
Der alte Mann seufzte. »Oh, na schön. Ich werde sie fragen. Aber sie wird bestimmt nicht begeistert sein.«
Er verschwand wieder in dem niedrigen, weißen Pförtnerhaus. Auf einem Holzregal im Innern des Hauses stand eine Ansammlung von Kristallen, die alle in verschiedenen Farben erglühten. Der Torhüter griff nach einem Stein, der ein dunkles, ins Violette spielende Blau verströmte, und sprach mit leiser Stimme hinein. Nach einer Weile nahm ein Lichtfleck schimmernd vor ihm Gestalt an, und Anvar keuchte, als dieser Fleck sich in das Gesicht einer Frau verwandelte, einer Frau mit dunklem, kurzgeschnittenem Haar, hohen Wangenknochen und einer arroganten, vorspringenden Nase. Ihr Gesichtsausdruck war schläfrig und ungehalten. »Was ist los?« fragte sie schroff. »Ich hoffe für dich, daß du einen guten Grund hast, mich zu dieser Stunde zu stören!« Mit vielen Verbeugungen und Entschuldigungen erklärte der Torhüter die Situation. Die Lady Meiriel runzelte die Stirn .»Wie oft habe ich dir gesagt, daß du mich nicht wegen solcher Nichtigkeiten stören sollst? Wenn ich mich um jeden kranken Sterblichen in Nexis kümmern sollte, würde ich meine Kraft an einem einzigen Tag erschöpfen! Schick den Burschen weg – und was dich betrifft, so wird der Erzmagusch morgen erfahren, daß ich deine Unfähigkeit nicht länger hinnehmen werde. Solche Dinge passieren viel zu oft! Du bist offensichtlich nicht für deinen Posten geeignet!«
Das Gesicht flackerte noch einmal auf und erlosch dann. Der Torhüter wandte sich wieder an Hargorn. »Siehst du, was du da angerichtet hast«, jammerte er, aber es war niemand mehr da.
Der Soldat holte Anvar ein, bevor er am Ende des Dammes angelangt war. »Laß mich in Ruhe!« rief der Junge blind von Tränen. Hargorn legte ihm freundlich die Hand auf die Schulter.
»Es tut mir leid, Junge, aber ich habe dich ja gewarnt. Nun komm, ich bringe dich nach Hause.«
Großvater starb noch vor Morgengrauen. Als Anvar über die Leiche des alten Mannes in Tränen ausbrach, versuchte seine Mutter, ihn zu trösten. »Du darfst nicht so traurig sein«, sagte sie sanft und legte einen Arm um seine zitternden Schultern. »Sieh ihn dir doch an.« Ein Lächeln reiner, erhabener Freude verklärte Großvaters Züge. »Er ist jetzt wieder bei Großmutter«, sagte Ria. »Er hat sie so sehr geliebt, und in all diesen Jahren hat er sie furchtbar vermißt. An seinem Gesicht kannst du sehen, daß sie jetzt wieder zusammen sind. Ich wußte, wie sehr er dir fehlen würde, Liebling, aber du solltest auch versuchen, um seinetwillen glücklich zu sein.«
»Wie kannst du das alles wissen?« fragte Anvar. »Wie kannst du sicher sein, daß er jetzt überhaupt irgendwo ist? Er ist tot! Obwohl diese verfluchte Heilerin ihn hätte retten können!«
Ria seufzte. »Anvar, Großvater war alt und am Ende seiner Kräfte. Es hat ihm hier in der Stadt niemals wirklich gefallen, und er hatte ein hartes Leben hinter sich. Er war müde, das ist alles. Ich glaube nicht, daß die Lady Meiriel irgend etwas hätte tun können …«
»Sie hätte es versuchen können!« Anvar war sich nur verschwommen darüber im klaren, daß er laut schrie. »Sie hätte sich um ihn kümmern können! Aber er war nur ein Sterblicher. Wir bedeuten diesen Maguschleuten weniger als Tiere!«
Ria seufzte wieder und ging aus dem Zimmer, um ihn ein letztes Mal mit seinem Großvater allein zu lassen. Und als er dort in der kalten Kammer neben der leeren Hülle dessen kniete, was einst ein guter und liebevoller Mann gewesen war, schlug ein tiefer, kalter Haß auf die Magusch in seinem Herzen Wurzeln.