Aurian wandte sich wieder an die anderen und war überrascht, zu sehen, daß der Eunuch sich mit einer Hand sein Hinterteil rieb und die andere wütend zur Faust geballt hatte, während er Shia wilde Blicke zuwarf. »Ist mit euch beiden alles in Ordnung? Bohan, was ist los?«
Shias Stimme war voller Abscheu. »Dieser faule Ochse hier hat sich nicht schnell genug bewegt, also habe ich mit meinen Klauen etwas nachgeholfen.«
Ein ersticktes Kichern von Anvar zeigte, daß auch er die Worte der Katze vernommen hatte. Aurian begann von neuem hilflos zu lachen. Bohans entrüsteter Gesichtsausdruck und Shias wütender Blick machten es nur noch schlimmer. Die Magusch fielen einander von neuem in die Arme und konnten nichts anderes tun als weiterzulachen.
»Aber woher hast du gewußt, daß der Stein diesmal wirklich herunterfiel?« wandte Aurian sich an Shia, als sie ihren Lachkrampf endlich wieder unter Kontrolle hatte. Jetzt, da sie beide mit ihr sprechen konnten, hatten die Magusch es sich angewöhnt, ihre Gedanken laut auszusprechen. Das machte die Dinge viel einfacher. Shia leckte sich steif eine Pfote, obwohl ihr zuckender Schwanz bewies, daß die jüngsten Ereignisse auch sie zu Tode erschreckt hatten.
»Ich habe es nicht gewußt. Aber Katzen gehen niemals ein Risiko ein!«
»Wirklich, du Kätzchen Neunmalklug?« gab Anvar zurück. »Und was war, als du beim Kampf mit diesem Spinnenwesen beinahe über die Klippe gegangen wärst?«
Shia funkelte ihn wütend an. »Das war etwas anderes!«
»Ach?«
»Mir ist gerade eine Idee gekommen.« Aurian unterbrach den beginnenden Streit. »Dieses schreckliche Heulen, das wir gehört haben, als ihr beide da durchgekommen seid – warst du das, Bohan?«
Der große Mann sah sie verwirrt an.
»Nun, ich war es jedenfalls nicht«, erklärte Shia.
»Aber das heißt ja, daß du sprechen kannst!«
Bohan öffnete den Mund, aber es war nichts zu hören. Aurian konnte sehen, wie sein Gesicht röter und röter vor Anstrengung wurde, und machte schnell einen Schritt auf ihn zu. »Nicht, Bohan. Du wirst dir nur selbst weh tun. Offensichtlich ist das Problem nicht körperlich, aber ich bin im Augenblick zu schwach, um es mit Geistheilung zu versuchen. Aber ich verspreche dir, wenn wir hier rauskommen, werde ich dir helfen, deine Stimme wiederzufinden.«
Er lächelte sie an, aber die Sehnsucht, die Hoffnung in seinen Augen, machte Aurian das Herz schwer. Sanft streichelte sie seine Hand. »Jetzt wollen wir uns eine Weile ausruhen. Ich glaube, wir brauchen alle etwas Zeit, um uns zu erholen, bevor wir weitergehen können.«
Diesmal dachten sie nicht einmal daran, Wachen einzuteilen, obwohl sich das im nachhinein vielleicht als schierer Wahnsinn erweisen mochte. Sorglos in ihrer Schwäche und nach den Schrecken der vergangenen Stunde schliefen sie wie Tote, eng aneinandergeschmiegt und trostsuchend wie verirrte Kinder. Als Bohan Aurian schließlich weckte, war das Licht wieder in den Durchgang zurückgekehrt, und der Stein hatte sich in die Höhe gehoben, um den Tunnel hinter ihnen freizugeben. Die Falle war von neuem aufgestellt worden.
Sie machten sich über die mageren Reste ihres Essens und ihres Wassers her, aber ein Gefühl der Beklommenheit verdarb ihnen die letzte Mahlzeit. Hatte der Stein sich von selbst wieder gehoben? Oder, welch schrecklicher Gedanke, hatte irgend jemand – oder irgend etwas – sich herangeschlichen, um den Zauber zu erneuern, während sie schliefen?
»Unsinn«, meinte Aurian. »Wenn jemand hiergewesen wäre, hätte er es uns wissen lassen, da könnt ihr sicher sein!« Nichtsdestotrotz spürte sie eine Gänsehaut zwischen ihren Schulterblättern, die sie auch nicht mit gesundem Menschenverstand abschütteln konnte, und als sie ihren Freunden ins Gesicht sah, wußte sie, daß es ihnen genauso ging. Als sie weitermarschierten, wurde die Krümmung des Tunnels langsam weiter; schließlich verlief er geradlinig, stieg aber gleichzeitig immer steiler an. Es gab jetzt keine weiteren Zimmer mehr, und schon bald begann auch die Beleuchtung sich zu verändern. Die glühenden, bernsteinfarbenen Adern des Felsens machten allmählich einer Ansammlung vielfarbiger Juwelen Platz, die wie jene in der Wüste unter ihnen leuchteten und ihr eigenes, mysteriöses Glühen verbreiteten. Schon bald war der Weg von flackerndem Juwelenlicht erhellt, das von allen Seiten auf sie einstürzte, als schritten sie über die strahlenden Pfade des Universums selbst.
»Wie schön das ist«, murmelte Aurian. »Ich bin froh, daß wir die Gelegenheit hatten, das hier zu sehen, selbst wenn …«
»Selbst wenn wir für diese Erfahrung sterben müssen?« Das waren beinahe die ersten Worte, die Anvar gesprochen hatte, seit er erwacht war. Nach seinem Gefühlsausbruch am vergangenen Tag hatte sich eine Befangenheit zwischen den Magusch ausgebreitet, als wären sie beide ängstlich darauf bedacht, den Konsequenzen seiner Worte aus dem Wege zu gehen. Aurian war das Ganze plötzlich von Herzen leid. Nichts hat sich verändert, sagte sie sich selbst. Er ist immer noch Anvar. In der Hitze des Augenblicks gesprochene Worte – was hat sich dadurch schon verändert? Wenn wir sterben, spielt das Ganze ohnehin keine Rolle mehr, und wenn nicht – nun, dann werden wir schon irgendwie darüber hinwegkommen, und es hat keinen Sinn, in der Zwischenzeit eine gute Freundschaft deswegen zu zerstören. Sie griff nach seiner Hand.
»Verzweifle nicht«, sagte sie zu ihm. »Denk an die vielen Male, die wir beinahe gestorben wären, seit wir Nexis verlassen haben, und doch leben wir noch. Irgend etwas wird schon passieren, du wirst sehen. Wir sind ein viel zu zähes Gespann, du und ich, als daß man uns umbringen könnte.«
Anvar drückte ihre Hand und sah ihr endlich wieder in die Augen. Plötzlich schien er zuversichtlicher zu sein. »Du hast recht«, sagte er, »und wir werden noch viel mehr erleben, bevor wir am Ende sind.«
»Licht! Da vorn ist Licht!« Als sie Shias Ruf hörten, drehten sie sich beide gleichzeitig um.
»Tageslicht!« Es leuchtete trüb hinter einer scharfen Biegung im Tunnel, gedämpft von dem Sternenglitzern der Juwelen. Shia war mit aufgestellten Nackenhaaren vor der Biegung stehengeblieben.
»Das ist Magie da vor uns«, warnte sie die anderen und machte damit dem überstürzten Vormarsch ihrer Gefährten ein Ende.
Aurian trat einen Schritt nach vorn, aber Anvar, der ihre Hand auch im Laufen nicht losgelassen hatte, zog sie zurück.
»O nein, das wirst du nicht tun«, knurrte er. »Diesmal gehen wir zusammen!«
Sie krochen nach vorn und spähten ängstlich um die Ecke. »Bei Chathaks Eiern« fluchte Aurian. Der Tunnel vor ihnen wurde von einem großen Edelstein versperrt, der den uneinnehmbaren Türen ähnelte, denen sie weiter unten begegnet waren. Das Tageslicht blinzelte durch seine polierten Facetten – so nahe, und doch hätte es Millionen Meilen entfernt sein können, wenn sie keinen Weg fanden, das Hindernis zu umgehen.
»Dieses Geräusch ist auch wieder da«, sagte Anvar plötzlich. »Hört ihr es auch?«
Und tatsächlich, das irritierende hohe Summen zitterte wieder in Aurians Kieferknochen. »Was ist das?« wollte sie ungehalten wissen und kämpfte gegen den Drang, in Tränen verzweifelter Enttäuschung auszubrechen.
»Ich glaube, es kommt von der anderen Seite. Shia! Komm endlich her!«
»Ich habe dich gehört.« Die Katze kam um die Biegung und warf Anvar einen finsteren Blick zu. »Es besteht kein Grund, zu schreien.«
»Tut mir leid. Kannst du herausfinden, ob die Magie von dem Stein selbst kommt, oder ist vor uns noch irgendeine andere Falle aufgebaut?«
»Ich glaube nicht. Die Magie ist in dem Kristall selbst.«
»Richtig.« Anvar wollte weitergehen, aber Aurian hielt ihn am Arm fest.
»Einen Moment mal«, rief sie. »Du hast die Regeln gemacht, erinnerst du dich? Zusammen oder gar nicht.«
Zusammen untersuchten sie den Kristall und ließen ihre Hände über die glatte, harte Oberfläche gleiten. »Genauso wie die anderen«, sagte Anvar verzweifelnd. »Anders als der, in dem du gefangen warst. Zu diesen Türkristallen gibt es keine Schlüssel. Wir stecken in einer Sackgasse.«