»Das ist unmöglich!« Aurian versetzte dem Ding einen wilden Tritt und heulte fluchend auf, als sie mit den Zehen auf den unnachgiebigen Stein traf. »Jetzt reicht es aber!« In gedankenloser Rage hob sie ihren Stab und ließ einen zischenden Blitz auf den Kristall los.
»Aurian, nein!« Anvar legte sich schützend eine Hand über die Augen, bevor er hart gegen die Wand geschleudert wurde. Während der Edelstein zu zischen und mit einem strahlend hellen Licht zu pulsieren begann, füllte sich der Korridor mit Rauch.
»Halt!« Ganz schwach hörte Aurian Shias dringenden Aufschrei in ihren Gedanken. »Du machst es nur noch schlimmer! Die Magie des Steins wächst!«
Zu ihrem Entsetzen mußte die Magusch feststellen, daß dem so war. Der Edelstein verhielt sich genauso wie die Armreifen und saugte Aurians Kräfte in sich hinein, um seine eigenen zu vergrößern. Der Stab zitterte in ihrer ausgestreckten Hand, als die Energie durch ihren Körper und durch ihren Arm strömte, um sie mit jeder Sekunde weiter auszubluten und zu schwächen. Aurian griff nicht länger mit ihrer Macht nach dem Stein – der Stein zog die Energie aus ihr heraus! Ihre Eingeweide zogen sich in Panik zusammen. »Hilf mir!« rief sie. »Ich kann es nicht aufhalten!«
Etwas Hartes rammte sich in sie hinein und schlug sie zu Boden, wo sie atemlos liegenblieb. Der Stab wurde ihr in einem Funkenregen aus der Hand gerissen, so daß das tödliche Band der Magie durchbrochen wurde. Aurian, die keuchte wie ein gestrandeter Fisch, sah Bohan, der halb auf ihr lag und den rauchenden Stab nun mit einer Schmerzensgrimasse fallen ließ. Das Funkeln des Kristalls wurde schwächer, und der Rauch begann sich zu heben.
»Du und dein verfluchtes Temperament, Aurian!« Anvar untersuchte Bohans Hand.
»Ich weiß. Es tut mir leid, Anvar. Das war wirklich dumm von mir. Ist mit Bohan alles in Ordnung?«
»Mehr oder weniger.«
Der Eunuch unterstrich seine Worte mit einem Nicken.
Anvar streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen. »Aurian, wir müssen aufhören, einander auf solche Art und Weise zu Tode zu erschrecken.«
»Abgemacht.« Aurian raffte sich mühsam auf und wandte sich wieder dem Kristall zu. »Aber, wie dem auch sei, ich habe eine Idee.« Sie dachte daran, wie die Armreifen ihr die Kraft geraubt hatten, als sie in dem Sklavenlager versucht hatte, Anvar zu helfen.
»Sei vorsichtig!« sagte Anvar hastig.
»Ganz bestimmt. Ich habe meine Lektion gelernt. Keine törichten Feuerwerke diesmal, das verspreche ich dir.« Sie preßte erst ihre Hände, dann ihr Gesicht flach auf den Kristall und tastete sein Inneres mit den Sinnen einer Heilerin ab, spürte dem zarten Gitterwerk nach, das das Gerüst und das Leben des Steins bildete. Da ihr übereiltes Vorgehen ihre Kräfte erschöpft hatte, dauerte es ziemlich lange, bis sie die Schwäche fand, die Lücke in seiner Verteidigung, die sie suchte. Aber sie war da. Bei den Göttern, sie war da! Aurian tastete mit ihrem Willen danach und zog … Ah, nun hatte sich das Blatt gewendet! Die Magusch spürte, wie ihre Handflächen prickelten, als die Kraft durch den Fehler im Stein zu ihr zurückflutete. Sie zog an der Energie des Steins, bis sie dem Bersten nahe war, unfähig, eine solche Menge Energie in sich aufzunehmen. Sie begann, sich zu fragen, ob sie ihre Fähigkeit, mit der in dem Stein gespeicherten Macht umzugehen, überschätzt hatte. Wieder fühlte sie den eiskalten Würgegriff der Angst. Wenn sie diesen Zauber doch nur Anvar beigebracht hätte, so daß er ihr hätte helfen können. Wenn sie doch nur irgendeine Möglichkeit hätte, die zusätzliche Kraft zu lagern. Aber …
»Lauft zurück um die Ecke!« schrie sie und versuchte mit ungeheurer Anstrengung, die Kraft zurückzuhalten, bis ihre Freunde in Sicherheit waren. »Bedeckt eure Augen!« Dann stieß die Magusch eine Hand vor und schleuderte einen gewaltigen Energiestrom auf das Hindernis zu, wobei sie sich gleichzeitig hastig mit einem Schild wappnete. Der Stein explodierte beim Aufprall ihrer Energie, und die Erschütterung schlug mit gewaltiger Kraft auf ihren Schild, aber ihre Verteidigung hielt stand, und was den Kristall betraf – ihre Arbeit war getan. Ohne die Energie, die ihn zusammenhielt, brach der Edelstein mit einem heiseren Flüstern zu einem Haufen feinen Pulvers zusammen. Aurian stieß einen gewaltigen Seufzer der Erleichterung aus.
Anvar tauchte wieder hinter der Biegung auf; er war sehr blaß. »Ich dachte, wir wären übereingekommen, einander nicht mehr so zu erschrecken?« Seine Stimme war leise, aber in seinen Augen lag ein zorniges Glühen.
»Es tut mir leid, Anvar. Ich hätte nicht gedacht … Ich wußte nicht, daß es um soviel Energie ging.« Sie strahlte. »Aber es hat funktioniert, nicht wahr? Und schließlich ist nichts Schlimmes passiert.«
»Nichts Schlimmes?« fauchte Shia. »Und was ist mit meinen Nerven?«
Anvar seufzte. »Ich muß zugeben, daß es funktioniert hat. Aber wenn du so etwas jemals wieder tust …«
»Na schön«, gab Aurian nach. »Das werde ich nicht. Statt dessen werde ich es dir beibringen, und das nächste Mal kannst du es tun.«
»Menschen!« knurrte Shia angewidert.
Gemeinsam stolperten sie über den Haufen feinen Kristallstaubs und spähten durch die Öffnung, die Aurian geschaffen hatte. Das Herz der Magusch sank. »Bei allen Göttern! Nach all dem führt der Gang nicht einmal nach draußen!« Sie warf sich zu Boden, kauerte sich auf den Staubhügel und legte ihren Kopf in ihre Hände.
»Aurian, sieh dir das mal an!« Anvar klang aufgeregt.
»Sieh du es dir an. Ich habe genug von diesem verfluchten Ort gesehen.«
»Mach dich nicht lächerlich.« Er zog sie entschlossen auf die Füße. Mit einem Stöhnen hob Aurian ihren Stab auf, folgte ihm und trat mit einem scharfen Fluch hastig zurück, als sie den Abgrund sah, der vor ihren Füßen klaffte. Sie standen in einem Turm, dessen kreisrunder Innenraum sich in die Höhe erstreckte, so weit das Auge reichte. Die fugenlosen Wände waren aus einem durchscheinenden, weißen Stein. Runde Kristallfenster zogen sich in einer endlosen Spirale um die Wand des Gebäudes und ließen schwertdünne Sonnenstrahlen auf den Boden fallen – nur, daß es keinen Boden gab. Sie standen auf einem schmalen Steinflansch, der aus der Wand des Turms nach innen ragte und sich in einer endlosen Wendel in die grenzenlose Höhe schraubte. Unter ihnen lag ein lichtfunkelnder Schacht, der von den dort zusammenfließenden Strahlen aus den Fenstern erleuchtet war. Und auf gleicher Höhe mit ihnen drehte sich – scheinbar auf der dünnen Luft über dem Abgrund schwebend – eine große, funkelnde Kristallkugel, die die Luft mit dem unangenehmen, alles durchdringenden Summen erfüllte, das sie in dem Durchgang und in der rot erleuchteten Kammer weiter unten gehört hatten.
Anvar lag auf dem Bauch und ließ sich auf eine Art über den Rand des Schachtes hängen, daß Aurians Magen sich zusammenkrampfte. »Das ist ja ungeheuer! Wollen wir wetten, daß es da direkt hinunter in die Kluft geht, die wir überquert haben?«
Aurian stöhnte. »Anvar, komm da weg!«
»Ja, bitte«, fügte Shia hinzu, die ebenfalls alles andere als glücklich klang. »Dieser Ort ist zum Bersten gefüllt mit Magie.«
Anvar ignorierte sie beide. »Natürlich ist er das! Seht ihr denn nicht, daß das eine Art magischer Pumpe ist? Das ist auch der Grund, warum die Luft weiter unten so frisch war – diese Pumpe läßt sie zirkulieren.«
»Sehr klug, Anvar.« Aurian tat ihr Bestes, aber es gelang ihr nicht, die Verzweiflung aus ihrer Stimme fernzuhalten. »Es ist außerdem, wie dir vielleicht aufgefallen ist, eine Sackgasse. Wir müssen wieder zurück nach unten.«
Anvar schob sich von dem Rand des Schachtes weg. »Ich glaube nicht.’ Der Pfad …« – er zeigte auf den Steinstreifen, auf dem sie standen – »diese Drachentreppe, wenn du es so willst, führt immer noch weiter nach oben. Ich denke, da oben werden wir einen Weg nach draußen finden.«