Aurian blickte den steinernen Saum hinauf, der sich über ihren Köpfen in die Höhe wand; dann senkte sie den Blick wieder nach unten in den bodenlosen Schacht. Sie schluckte und sah Anvar an. »Ich dachte, wir wollten einander nicht mehr erschrecken?«
Er grinste. »Du hast dieses Versprechen bereits gebrochen.«
»Das ist nicht komisch!«
»Ich weiß. Aber es ist unser einziger Ausweg. Sieh mal, der Pfad ist auch nicht so schmal, wie er ausschaut. Er wurde für Drachen gebaut, weißt du. Nun komm schon, Aurian. Ich halte dich fest. Du mußt es schaffen.«
»Na schön.« Aurian seufzte. »Aber Anvar, wenn wir jetzt den ganzen Weg bis nach oben zurücklegen und es dort keinen Ausweg gibt, dann fliegst du kopfüber diesen Schacht hinunter!«
Später zog Aurian es vor, sich an diese Kletterpartie nicht zu erinnern. Es schien eine ganze Ewigkeit zu dauern, während sie sich die gewundene Rampe hinaufschob und sich mit dem Rücken fest an die Mauer des Turms preßte. Sie kletterte, bis ihre Beine vor Schwäche zitterten, aber die Magusch weigerte sich, eine Pause zu machen. »Nein«, flüsterte sie. »Ich will es hinter mich bringen.« Doch irgendwann stand fest, daß sie es in ihrem ausgehungerten und erschöpften Zustand ohne eine Pause niemals bis nach oben schaffen würden. Aurian setzte sich an die Turmmauer – so weit vom Rand entfernt wie nur möglich –, kauerte sich zusammen und machte die Augen fest zu. Nach einiger Zeit gingen sie dann weiter, mit verkrampften Muskeln und schmerzendem Kopf, bis Aurian so sehr mit ihren strapazierten Gliedern beschäftigt war, daß sie den Abgrund unter sich ganz vergaß. Ein Gefühl der Ungläubigkeit durchflutete sie, als sie endlich den Torbogen über sich entdeckte. Halb besinnungslos taumelte sie in das gepriesene Tageslicht.
»Sei vorsichtig!« Anvar hielt sie am Arm fest und riß sie zurück. Taumelnd fiel Aurian zu Boden.
»Anvar«, keuchte sie, »ich hasse dich. Ich hasse dich unendlich.«
Sie erwachte, als eine sanfte Hand sie an der Schulter berührte. Anvars Gesicht war dem ihren sehr nahe. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich habe dich so lange schlafen lassen, wie ich es gewagt habe, aber wir müssen weitergehen, solange es noch etwas Tageslicht gibt. Haßt du mich immer noch?«
Aurian stöhnte. Der ganze Körper tat ihr weh. »Das kommt darauf an. Habe ich wirklich gesehen, was ich glaube, gesehen zu haben?«
»Ich fürchte ja.«
»In diesem Falle lautet die Antwort: ja. Ich hasse dich.« Sehr vorsichtig bewegte sie sich an den Rand der Plattform, die das Dach des Turms bildete, und spähte hinunter. Ach, wie gut es doch tat, nach ihrer nächtlichen Reise durch die Wüste und den langen Tagen in den düsteren Hallen die Sonne und den Himmel wiederzusehen. Und trotz ihrer Angst war der Ausblick atemberaubend. Der Turm stand an einem Ende einer ovalen Ebene, die etwa eine Wegstunde lang sein mochte – der Boden eines Kraters, der den Gipfel des Berges aushöhlte. Die gezackten Grate der Kraterwände waren höher als das Dach, auf dem sie kauerte, und sie schützten das Tal darunter vor dem schlimmsten, blendenden Funkeln der Wüste. Und in dem Tal … Aurian hielt den Atem an. Dort vor ihr lag die verlorene Stadt des Drachenvolks!
Sie war nicht in Linien und Winkeln angeordnet wie eine menschliche Stadt, sondern in einer Reihe sich überlappender Kreise, die sich wie zu einem Spinnennetz vereinten und alle bei einem gewaltigen, kegelförmigen Gebäude zusammenliefen, das wie eine riesige Turmspitze aussah und den Turm, auf dem sie sich jetzt befanden, noch überragte. Die Sonne funkelte wie Feuer auf seiner langgezogenen Spitze, was keine Überraschung war, denn das Gebäude bestand aus einem einzigen, riesigen, grünen Kristall. Als Aurian endlich aufhören konnte, das Ganze fassungslos anzustarren, entdeckte sie, daß auch alle anderen Gebäude in der Stadt in ähnlicher Weise konstruiert waren. Jedes von ihnen war aus einem bunten Juwel geformt, das ein funkelndes Licht ausstrahlte. Die meisten Gebäude waren rund und eingeschossig und hatten breite, flache Dächer, wo, so nahm die Magusch an, die Drachen sich niedergelassen hatten, um die Sonnenstrahlen aufzufangen, die ihr Lebenselixier waren. Dann gab es noch mehrere Türme, Kuppeln und Minarette, alle raffiniert geschnitzt und ziseliert, aber die höchsten Gebäude waren der Turm, von dem sie gerade Ausschau hielt, und die gewaltige Turmspitze in der Mitte.
Anvar, so schien es, hatte das alles schon betrachtet, während sie schlief, und war nun bereit, sich dem praktischen Aspekt seiner Entdeckungen zu stellen. »Ich habe da unten eine Menge Vögel gesehen – ich nehme an, das ist ihr Ruheplatz, bevor sie die Wüste durchqueren. Wenn wir eine Möglichkeit finden, sie zu fangen, haben wir zu essen. Und da unten muß es auch Wasser geben. Selbst die Drachen mußten doch etwas trinken, oder?«
»Also gehen wir hinunter.« Aurian hatte den spiralförmigen Pfad bereits entdeckt; es war ein Zwillingsbruder desjenigen im Innern des Turms, und er wandt sich hinunter – und hinunter – bis in die Stadt hinein. »Verflucht und verhext sollen sie sein!« Machtlos schlug sie mit der Faust auf den Stein und brach in Tränen aus. »Warum konnten sie keine Geländer an diesen verdammten Auf- und Niedergängen anbringen?«
»Es tut mir leid, Liebes.« Anvar strich ihr übers Haar. »Aber …«
»Ich weiß, ich weiß.« Aurian setzte sich auf und schniefte; dann rieb sie sich mit dem Ärmel ihres Gewandes übers Gesicht und fing Anvars Blick auf – beide erinnerten sie sich an lang vergangene Gelegenheiten, bei denen er sie wegen dieser Angewohnheit gescholten hatte. »Kümmere dich nicht um mich, Anvar. Ich bin eine Närrin. Geh also voraus – da du ja offensichtlich für hohe Plätze zuständig zu sein scheinst!«
Der Abstieg war weit schlimmer als der Aufstieg. Der Pfad schien unter Aurians Füßen wie wahnsinnig abwärtszustürzen, und dort, unter ihr, war nichts als dünne Luft. Die anderen hatten ähnliche Schwierigkeiten, und die Sonne war schon lange hinter den hohen Bergwänden verschwunden, als sie sich dem Ende ihres Weges näherten. Da der Pfad nun fast in tiefer Dunkelheit lag und ihre Aufmerksamkeit ganz auf ihre Füße konzentriert war, bemerkte sie nicht den Schatten, der sich über ihnen in die Luft schwang. Anvar, der voranging, drehte sich gerade zu Aurian um. »Wie wäre es jetzt mit etwas …« Sein Gesicht erstarrte vor Entsetzen. Die Magusch hatte keine Zeit, sich umzusehen. Etwas traf sie hart am Kopf und riß sie von den Füßen. Drahtige Arme umklammerten sie, sie fing das Glitzern von Stahl auf und fiel – fiel …
33
Der Stab der Erde
»Aurian!« Anvar, besinnungslos vor Angst, rannte den gewundenen Pfad hinunter, gefolgt von Bohan und Shia. Der steinerne Niedergang erreichte den Boden genau auf der gegenüberliegenden Seite des Turmes. Anvar rannte um den Turm herum und wagte es nicht, sich auszumalen, was er dort vorfinden würde. Er hätte die beiden Kämpfenden um ein Haar umgerannt. Eine schmale Gestalt, deren Gesicht von dem dämmrigen Schatten, die den Boden des Kraters umflossen, verborgen war, kämpfte mit der Magusch. Aurian lebte!
»Weg da!« Die Stimme war schrill. Der Fremde, eingehüllt in tiefstes Schwarz, packte eine Handvoll von Aurians Haar, um ihren Kopf abzureißen. Eine funkelnde, nackte Klinge lag auf der Kehle der Magusch.
Es blieb keine Zeit, sich darüber zu wundern, wie Aurian den Sturz überlebt hatte. Anvar schätzte die Entfernung zwischen sich und den Kämpfern ab und überlegte, welche Chancen ein Überraschungsangriff haben würde. Keine gute Idee, dachte er. Wenn er nur besser sehen könnte … Maguschlicht flackerte zwischen seinen Fingern auf. Er hörte einen erschrockenen Aufschrei des Fremden, und Aurian machte sich den Vorteil, daß ihr Gegner abgelenkt worden war, sofort zunutze. Es folgte ein Rascheln und ein gequältes Stöhnen, und die Positionen der beiden Gegner hatten sich plötzlich umgekehrt. Der Dolch ging zu Boden, und Bohan brachte ihn schnell an sich. Aurian war über ihrem Gegner und attackierte ihn nun laut fluchend mit beiden Füßen. Anvar, der sich an den eigenen blinden Zorn während seines Kampfes mit Harihn erinnerte, stürzte nach vorn und griff nach ihrem Arm. »Es ist gut«, keuchte er. »Du hast gewonnen!« Aber als er versuchte, die Magusch auf die Füße zu ziehen, fiel sie mit einem Schmerzensschrei zu Boden. »Bist du verwundet?« Anvar ließ sich neben ihr nieder.