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Aurian fluchte wild. »Ich habe mir bei der Landung das Knie verrenkt«, murmelte sie. »Deshalb hatte sie auch einen Vorteil – und weil ich zu Tode erschrocken war.« Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber warum hat sie meinen Fall gebremst?«

»Es ist eine Sie?«

Aurian entzündete ihr eigenes Maguschlicht mit einer Leichtigkeit, die Anvar vor Neid aufseufzen ließ. »Hast du jemals einen Mann so kämpfen sehen?« Ihre Arme und ihr Gesicht zeigten lange, tiefe, blutige Kratzer. »Und außerdem habe ich eine Handvoll Haare opfern müssen, um mich aus ihrem Griff zu befreien.« Aurian schnaubte angewidert und rieb sich die Kopfhaut. Im Maguschlicht erschien ihr Gesicht grau, und Anvar wußte, daß ihr Sturz ihr furchtbare Angst eingejagt haben mußte – genauso wie ihm.

»Ich weiß nicht, warum sie deinen Sturz gebremst hat, aber ich danke den Göttern dafür, daß sie es getan hat«, sagte er mit zitternder Stimme.

Aurians Selbstbeherrschung geriet langsam ins Wanken, und einen Augenblick lang dachte Anvar, sie würde sich in seine Arme werfen, so wie sie es nach ihrem furchtbaren Aufstieg auf die Klippen von Taibeth getan hatte. Aber statt dessen holte sie nur tief und zitternd Luft und machte einen sichtbaren Versuch, sich zusammenzunehmen. »Wenn ich anfange, darüber nachzudenken, fange ich gleich an, hysterisch zu schreien«, sagte sie entschlossen. »Wollen wir jetzt einen Blick auf unsere Gefangene werfen?«

Anvar, der ein schleichendes Gefühl der Enttäuschung unterdrücken mußte, wandte sich der Fremden zu, und Aurian bewegte ihr Licht ein wenig, so daß sie die zusammengekauerte, weinende Gestalt besser sehen konnten. »Die Götter mögen uns retten!« Zum ersten Mal konnte Anvar das, was er irrtümlich für einen dunklen Umhang gehalten hatte, genauer ansehen. »Sie hat Flügel!« Daraufhin schickte er Shia und Bohan weg, um festzustellen, ob irgendwo in der Nähe noch weitere Geflügelte herumlungerten. Dann machte er sich daran, die seltsame Gefangene näher zu betrachten.

Sie war sehr klein und von zartem Körperbau – kaum mehr als die Hälfte von dem, was Anvar selbst wog, obwohl jede der großen, schwarzen Schwingen, die ihrem Rücken entsprangen, länger war als ihr Körper. Die Flügelspitzen waren zusammengelegt, so daß der obere Teil ihrer Schwingen hinter ihren Schultern emporstieg und ihren Kopf überragte, während die unteren Teile am Boden in einem anmutigen Schwung zu einer Spitze zusammenliefen. Als Anvar ihr die Hände von ihrem geschundenen, tränenüberströmten Gesicht wegzog, funkelte sie Aurian mit großen, dunklen Augen an. »Sie hat mich geschlagen!« Sie sprach mit einem seltsamen Akzent, und Anvar nahm an, daß sein Maguschtalent, sich in allen Sprachen zu unterhalten, wieder einmal am Werke war.

»Was hast du erwartet?« sagte er wütend. »Du hast versucht, ihr die Kehle durchzuschneiden.«

Das geflügelte Mädchen spuckte Aurian vor die Füße. »In meinem Land würde sie dafür sterben, daß sie eine Prinzessin geschlagen hat.«

Aurian stöhnte. »Nicht schon wieder ein Königskind!«

Rabe starrte die große, grimmig aussehende Frau an, die kämpfen konnte wie ein Dämon, und ihr Magen krampfte sich zu einem engen, kalten Knoten der Furcht zusammen. Wer waren diese schrecklichen, großen, flügellosen Wesen? Sie hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. Und was taten sie an diesem verlassenen Ort? Was würden sie mit ihr machen? Der Mann mit den beunruhigenden himmelsfarbenen Augen griff grob nach ihrem Arm. »Sind hier noch mehr von euch?« wollte er wissen.

Rabes Verstand arbeitete sehr schnell.

»Natürlich!« fuhr sie ihn hochnäsig an. »Glaubst du, eine Prinzessin würde ohne Eskorte reisen? Laß mich gehen, sonst rufe ich meine Wachen, damit sie euch töten.«

»Sie lügt«, sagte die rothaarige Frau.

»Sag uns die Wahrheit!« Der Griff des Mannes wurde fester und ließ sie vor Schmerzen aufkeuchen. Rabe tobte innerlich, aber dieser harte; –eisblaue Blick ließ sie erzittern.

»Ich bin allein«, gestand sie. Sie war außerstande, ihre Tränen noch länger zurückzuhalten. Einen Augenblick lang dachte sie, daß sein Gesichtsausdruck mitleidig und weicher wurde, dann blickte er zu der Frau hinüber, und sein Gesicht wurde sofort wieder grimmig. Aber es war immerhin eine Chance. Wenn sie ihn auf ihre Seite bekommen könnte … Rabe blickte mit flehenden Augen zu dem Mann empor. »Bitte laß nicht zu, daß sie mich wieder schlägt!«

Die große Frau schnaubte angewidert. »Hör zu, du kannst dieses Erschrockenes-kleines-Mädchen-Gehabe gleich wieder sein lassen. Du täuscht hier niemanden damit. Du bist älter, als du aussiehst, würde ich sagen, und ich habe genug Wunden, um zu beweisen, daß du eine Furie bist.«

Rabe war maßlos wütend über die Bloßstellung ihres Plans. »Wie kannst du es wagen! Ich bin eine Prinzessin von königlichem Blut!«

»Nicht hier, o nein«, knurrte die Frau. »Du bist unsere Gefangene und steckst in größten Schwierigkeiten. Du hast mich angegriffen, vergiß das nicht. Ich habe immer noch eine Rechnung mit dir offen, weil du mich von diesem Turm heruntergestoßen hast.«

Nun, da war etwas Wahres dran, mußte Rabe sich eingestehen. Und doch hatten sie sie trotz ihres Angriffs auf die Frau nicht wirklich verletzt, obwohl sie sie sofort hätten töten können. Und sie war des Alleinseins so müde …

»Lady«, sagte sie schließlich, »ich möchte mich dafür entschuldigen. Ich – ich habe euch kommen sehen, und ich hatte Angst. Ich dachte, wenn ich euch überraschen würde …«

Zu ihrem größten Erstaunen grinste die Frau. »Und du hast deine Sache gar nicht so schlecht gemacht, wenn man es bedenkt. Warum hast du dann aber meinen Sturz mit deinen Schwingen gebremst? Wenn du mich von dieser Höhe heruntergestürzt hättest, hättest du mich augenblicklich töten können.«

Rabe zuckte mit den Schultern, und ihre dunklen, glänzenden Federn raschelten. »Ich dachte, wenn ich eine Geisel hätte, würden die anderen mir nichts tun.«

Gerade in diesem Augenblick tauchte eine turmhohe Gestalt aus der Dunkelheit auf. Rabe keuchte. Und sie hatte die beiden anderen schon für groß gehalten. Hinter ihm sah sie eine furchterregende Gestalt mit flammenden Augen. Rabe war nur allzu vertraut mit den wilden, großen Katzen, die auf der Nordseite ihres eigenen Gebirges lebten und einen ständigen Krieg mit ihrem Volk führten. Sie kreischte und versuchte wegzulaufen, aber der Mann zog sie wieder zu sich heran. »Es ist schon gut«, beruhigte er sie. »Shia ist eine Freundin, und sie kann mit uns sprechen.«

»Sie sagt, daß du wirklich allein gewesen bist, daß sie aber hier in der Nähe eine Art Lager mit einem kleinen Vorrat an Nahrung gefunden hat.« Die Frau kicherte. »Sie ist wütend, weil unser Bohan ihr nicht erlaubt hat, etwas davon zu essen. Aber jetzt mal ernsthaft: Ist das dein Lager? Wir haben alle schrecklichen Hunger.«

»Was ich habe, teile ich gern mit euch«, erbot sich Rabe, ängstlich darauf bedacht, irgendeine Geste der Freundschaft zu machen. »Ich habe einige Vögel gefangen, aber es gab nichts, um ein Feuer zu machen. Außerdem hat man mir nie beigebracht, zu kochen«, fügte sie offen hinzu, »also ist mein Hunger genausogroß wie eurer.«

Die Frau fing den Blick des Mannes auf und zuckte mit den Schultern. »Geh voran – und vielen Dank«, sagte sie.

Sie gingen durch die verlassene Stadt, wobei die große Frau ein wenig hinkte und sich auf den Arm des Mannes stützte. Sie stellten sich gegenseitig vor, obwohl sie alle zu sehr von dem Gedanken an etwas Eßbares in Anspruch genommen waren, um viel mehr als ihren Namen zu sagen. Rabe hatte ihr Lager in einem Gebäude aufgeschlagen, das aus einem einzigen großen Raum bestand, dessen Mauern aus trübblauem Kristall waren. Es gab keine Tür, die sie hätte schließen können, und keine Möbel oder sonst irgendwelche Zeichen, daß jemals jemand dort gelebt hatte, obwohl Regale und Nischen in die Wände geschnitten waren und ein Haufen verschiedener Edelsteine an einer der Wände aufgestapelt lag. Der beste Ausstattungsgegenstand in dem ganzen Raum befand sich in einer der Ecken: ein kleines, von einer Quelle gespeistes Wasserbecken, das die Aufmerksamkeit der durstigen Fremden eine beträchtliche Zeit in Anspruch nahm.