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»Das war nicht sehr fair Anvar gegenüber, oder, mein Liebes? Ich dachte, ich hätte dich Besseres gelehrt, als deine Zeit damit zu verschwenden, Schuld zu verteilen. Das Böse, das von Miathan ausgeht, verbreitet sich, und das ist nicht der richtige Weg, damit umzugehen!«

»Ich weiß. Es tut mir leid«, flüsterte sie unglücklich. Die geisterhafte Gestalt lächelte, und Forrals Gesichtsausdruck wurde weicher, als sich ein sehnsüchtiger, liebevoller Blick in seinen Augen zeigte. Dann winkte er ihr zu und wandte sich zum Gehen.

»Forral, warte!« Aurian zog sich mit Hilfe ihres Stabes hoch und humpelte hastig hinter ihm her, wobei sie ihm in die Dunkelheit der verlassenen Stadt hinein folgte.

Sie konnte ihn nicht einholen. Ganz gleich, wie schnell Aurian zu humpeln versuchte, Forrals Schatten hielt immer dieselbe Entfernung von ihr, obwohl er nie ganz aus ihrem Blick verschwand. Schließlich blieb er stehen, und als er sich zu ihr umdrehte, bemerkte sie, daß sie den rätselhaften, kegelförmigen Bau erreicht hatten, der das Zentrum und das Herz von Dhiammara bildete. Die summende Energie, die dem Gebäude entströmte, schien in jedem einzelnen ihrer Knochen zu vibrieren, aber sie hielt ihren Blick fest auf die geliebte Gestalt gerichtet. Mit ausgestreckter Hand humpelte sie zu ihm hinüber, denn sie sehnte sich so sehr danach, ihn noch einmal zu berühren.

»Nicht!« Die Warnung war scharf genug, um sie aufzuhalten, obwohl Forrals Stimme sehr sanft geklungen hatte. Er schüttelte den Kopf, und sein Gesichtsausdruck zeigte tiefsten Schmerz. »Du kannst mich nicht berühren, Kleines. Ich habe ohnehin schon die Regeln gebrochen, indem ich zu dir gekommen bin.« Er lächelte kläglich. »Aber wir hatten ja nie viel im Sinn mit Regeln, wir beide, nicht wahr?«

»Aber ich möchte bei dir sein!« Ihre Stimme brach mit einem Schluchzen.

»Ich weiß. Oh, mein liebster Schatz, wie sehr ich dich vermißt habe! Aber ich neide dir dein Leben nicht, ebensowenig, wie ich es unserem Kind neide. Außerdem trägst du eine ungeheure Verantwortung. Die Zeit, die vor dir liegt, wird nicht leicht sein, aber ich weiß, daß du es schaffen wirst.« Sein Gesicht leuchtete vor Stolz. »Ihr habt den Mut und die Entschlossenheit, um zu obsiegen, du und der junge Anvar.«

Forrals Worte wurden allmählich leiser, während er sprach. Sein Schatten schien sich aufzulösen und wie Rauch im Wind von ihr weggetragen zu werden. »Verlaß mich nicht!« rief Aurian voller Angst, als sein Bild verblaßte.

»Sie rufen mich zurück.« Seine Stimme schien nun weit entfernt zu sein. »Kümmere dich gut um unser Kind, mein Liebes, … und denk daran … ich liebe dich … Aber ich bin nicht mehr da …«

»Nein!« Aurian stürzte sich auf den Platz, auf dem er vor kurzem noch gestanden hatte. »Ich liebe dich auch, Forral«, flüsterte sie. Dann lehnte sie ihren Kopf an die kühle, summende Mauer des Gebäudes und gab sich ihrem Schmerz hin, bis ihr Körper von Schluchzen geschüttelt wurde.

Später wußte sie nicht mehr, wie lange sie dort geweint hatte. Aber es konnte nicht lange gewesen sein. Während ihre Tränen auf die glatte Mauer des grünen Kristalls fielen, wurde das Summen immer lauter und schriller. Die Magusch, deren Gedanken ganz mit Forral angefüllt waren, bemerkte nichts davon, bis sich plötzlich in dem Stein unter ihr eine Tür öffnete und sie jäh in die Tiefe gerissen wurde.

Der Sturz war nicht tief. »Oh!« Aurian setzte sich auf, fuhr sich über die Augen und sah sich um. Sie befand sich in einem breiten Korridor, der aus dem Edelstein herausgeschnitten war. In seinem Inneren glühte ein dumpfes, grünes Licht. Die Luft war abgestanden und erfüllt von einem seltsam würzigen Duft, aber als die kalte Luft des Plateaus durch das offene Portal hindurchwehte, wurde es im Innern schnell frischer. Wieder einmal spürte sie den lebendigen Geist in diesem Ort; das Gefühl einer fremden Macht, die an ihr zerrte und sie näher zu sich, tiefer ins Innere des Gebäudes zog. Die Magusch widersetzte sich diesem Gefühl, denn sie wollte nichts anderes, als dort zu bleiben, wo sie war, und sich an die kostbare Erinnerung ihrer Begegnung mit Forral klammern – so, wie sie den Dolch, den ein Gegner ihr in die Brust gerammt hatte, umklammern würde. Aber die Macht war beharrlich – und Forral hatte ihr unzweifelhaft klargemacht, daß sie eine Verantwortung trug.

»Also dann«, murmelte Aurian ungnädig und tastete auf dem Boden nach ihrem Stab. »Aber du wirst schon warten müssen, bis ich mein verstauchtes Knie in Ordnung gebracht habe. Was immer du bist, ich will beide Beine unter mir haben, wenn ich dir begegne!« Das Heilen ging überraschend leicht, und die Magusch hätte schwören mögen, daß die rätselhafte Kraft sie tatkräftig dabei unterstützte. Ob ihr Eindruck nun zutreffend war oder nicht, er beruhigte sie jedenfalls. Sie stand auf, und trotz des wachsenden Gefühls der Ehrfurcht, das dieser seltsame Ort in ihr weckte, kroch sie weiter hinein in die Tiefen des Gebäudes.

Wieder einmal wandt sich der Korridor in einer schier endlosen Spirale in die Höhe. Ich habe langsam genug davon, dachte Aurian. Man sollte meine, daß sie sich irgendwann auch einmal etwas anderes hätten einfallen lassen. Ihr Lächeln über ihre eigene Zaghaftigkeit fand ein jähes Ende, als der Durchgang sich zu einem luftigen, kreisförmigen Raum öffnete – dem Ende einer Sackgasse. Das Licht, das durch die grünen Kristallwände fiel, war nun heller geworden, und Aurian argwöhnte, daß draußen langsam der Morgen dämmerte. Der Boden der leeren Halle glitzerte in der zunehmenden Helligkeit, und die Magusch sah, daß er von einem kostbaren Goldmosaik bedeckt war, das ein verschlungenes, spiralförmiges Muster zeigte und damit sowohl ihre Augen als auch ihre Schritte auf das Bild eines großen Sonnenrades in seiner Mitte lenkte. Als Aurian einen Fuß darauf setzte, ertönte wie ein Donnerschlag ein scharfes, ohrenbetäubendes Krachen. Sie fuhr zusammen und riß die Arme hoch, um ihre Augen zu schützen, als ein blendender Sonnenstrahl, gebündelt durch irgendeine verborgene Öffnung in der hochgewölbten Decke, herunterschoß, um sie in einem goldenen Licht einzuschließen.

»Aurian ist verschwunden!« Shia schüttelte Anvar mit ihren Tatzen grob durch, und ihre Augen schienen in Flammen zu stehen. »Was ist gestern abend zwischen euch vorgefallen, Mensch?«

Anvar war sofort vollkommen wach. »O ihr Götter, wir müssen sie finden. Nach unserem Wortwechsel gestern abend kann man unmöglich vorhersehen, was sie tun wird.«

Trübes Tageslicht schien durch die Kristallwände ihrer Unterkunft. Bohan packte die Überreste ihres Abendessens zusammen, während Rabe ihnen mit weit aufgerissenen Augen zusah. »Was ist los?« fragte sie. »Was ist aus der Magusch geworden?«

Anvar wäre an seiner Abneigung für sie beinahe erstickt. Wenn sie es sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, sie mit ihren Problemen zu belasten … »Komm her, du!« sagte er herrisch und riß sie auf die Füße. Als sie nach draußen kamen, suchte Shia bereits den Boden nach Spuren ab.

»Katzen jagen für gewöhnlich nicht mit Hilfe des Geruchs«, sagte sie zu ihm, »aber ich glaube, ich kann sie finden. Es scheint so, als wäre sie in die Stadt gegangen.«

Nach und nach hörte das Flimmern vor ihren Augen auf. Aurian konnte wieder sehen, und das, was ihre Augen ihr zeigten, schien ihr nahezu unglaublich. Die Halle mit dem Sonnenrad war vollkommen verschwunden, und sie stand in einem gewaltigen Raum, der ganz aus Gold war: die Wände, der Boden und die gewölbte Decke. In der Mitte befand sich ein gewaltiger, unordentlicher Haufen Gold und Juwelen, und darauf … Aurian mußte alle Kraft aufbieten, um nicht wegzulaufen. Zusammengerollt auf dem Juwelenberg und beleuchtet nur von einem einzigen Strahl weichen Sonnenlichts, der durch die Öffnung in der Spitze der Kuppel zu kommen schien, lag ein riesiger, goldener Drache.