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Die Magusch zog ihr Schwert und machte einen Schritt zurück, wobei sie sich nach irgendeiner Möglichkeit zur Flucht umsah. Es gab keine. Abgesehen von der Öffnung in der hohen Decke hatte der Raum überhaupt keine Ausgänge. Aurian durchlebte ein oder zwei höchst unangenehme Augenblicke, bevor ihr auffiel, daß die Augen des Drachen geschlossen waren und daß er sich keinen Millimeter bewegt hatte, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Sie erinnerte sich an die heimtückische Zeitfalle. Die Drachen waren berühmt für ihre Schläue – war es möglich, daß dieser hier Schlaf vortäuschte, um sie näher heranzulocken?

Unsinn, sagte Aurian entschlossen zu sich selbst. Etwas von dieser Größe könnte dich binnen Sekunden fangen, wenn es sich die Mühe machen wollte. Dann blinzelte sie in das flackernde, goldene Licht und sah sich die reglose Kreatur genauer an; es widerstrebte ihr, näher heranzugehen, und erst nach einer ganzen Weile entdeckte sie den Grund für die Reglosigkeit des Drachens. Das goldene Leuchten seiner Schuppen machte es schwer, das bläuliche Funkeln zu erkennen, aber es war unzweifelhaft da. Jemand hatte ihn eingeschlossen – hatte ihn aus der Zeit genommen, und zwar mit demselben Zauber, den Finbarr ihr einst beigebracht hatte. Ihre Maguschneugier gewann die Oberhand, und Aurian schlich sich schließlich näher an das schlafende Ungetüm heran.

Es war schwer, keine Angst zu haben, obwohl sie wußte, daß der Drache hilflos war. Er war gigantisch – riesig genug, um problemlos die Große Halle der Akademie zu füllen, dachte Aurian. Aber es war wunderschön, dieses Wesen, mit der Sonne, die die eleganten Linien seines gewundenen Körpers hell erleuchtete. Es lag zusammengerollt wie eine schlafende Katze da, und sein schlanker, spitz zulaufender Schwanz hatte sich über seine furchterregenden Kiefer gelegt, während seine breiten Schwingen sich schützend über seinen Schatz gebreitet hatten. Diese Schwingen! Aurian war fasziniert. Sie waren gerippt wie die Flügel einer Fledermaus, aber zwischen den goldenen Streben erstreckte sich eine zerbrechliche, durchscheinende Membrane, die übersät war von dunkel schimmernden Schuppen und ein silbernes Netzwerk feiner Adern bildete – wie die dünnen Drähte, die um den Griff ihres Schwerts gewickelt waren. Die Magusch erinnerte sich daran, daß sowohl Yazour als auch Ithalasa ihr erzählt hatten, daß die Drachen sich ernährten, indem sie die Sonnenenergie direkt durch ihre Flügel in sich aufnahmen. Es sah so aus, als hätten sie wirklich recht gehabt.

»So, und was jetzt?« Ihre gemurmelten Worte klangen unanständig laut in der Stille des Raumes. Aurian kämpfte gegen ihre innere Überzeugung, daß die rätselhafte Macht sie aus einem bestimmten Grund hierher gelockt hatte: um nämlich das Dümmste zu tun, das sie jemals unternommen hatte. Sie war zweifellos mit voller Absicht hierhergeführt worden, aber ob zu ihrem eigenen Nutzen – das war eine andere Frage. Und doch, wenn sie den prachtvollen Drachen ansah, stieg unerwartet Mitgefühl in ihr auf. Das arme Ding, dachte sie. Wie lange war es wohl schon gefangen? Nun, ich hoffe nur, daß es mir dankbar sein wird. Dann trat sie einige Schritte zurück. In der Hoffnung, daß sie nun eine sichere Entfernung zu dem Drachen hatte, zog Aurian den Stab aus ihrem Gürtel und begann, den Zauber zu lösen.

Während sie das tat, durchflutete die Magusch das starke Gefühl, genau das Richtige zu tun – eine Zuversicht, die jedoch plötzlich verschwand und sie mit zitternden Knien zurückließ, als der Drache seinen Kopf hob. Riesige Facettenaugen, in denen schlafendes Feuer glomm, richteten sich mit unverwandtem Blick auf sie, so daß sie sich nicht mehr von der Stelle rühren konnte. Der Drache öffnete den Mund und zeigte Zähne, die wie geschwungene, funkelnde Schwerter aussahen – und Aurians Furcht verwandelte sich in reines Entzücken, als die Luft in dem Raum plötzlich von Licht und Musik zum Leben erweckt wurde. Wirbel reiner, immer wieder neuer Farben flössen durch die Decke und die Wände. Die Luft flackerte und blitzte in einer Folge schimmernder Regenbogen. Die Farben tanzten und drehten sich im Takt einer Musik, die so rein, so unendlich vollkommen war, daß die Magusch ihre Angst vergaß. Rund und einschmeichelnd war der fließende Schwall von Noten, aber mit der Kraft einer darunterliegenden, metallischen Schärfe, so hart und heiter wie Gold. Während Aurian, verloren in ihrem Staunen, dastand, waren ihre Kräfte vollauf damit beschäftigt, zu analysieren, zu speichern, Muster zu suchen. Nach einer Weile begann die atemberaubende Zurschaustellung von Licht und Klang eine Bedeutung anzunehmen. Das war die Sprache des Drachenvolkes!

»Ich sagte, wer hat mich geweckt?« Eine gereizte Schärfe schwang in dem fließenden Fall der Noten mit, unterlegt mit einer verhaltenen Sehnsucht. »Warum antwortest du nicht? Bist du der Eine, der endlich gekommen ist?«

Nach der Musik des Drachens klang Aurians Stimme dumpf und schwach in ihren Ohren. »Ich weiß es nicht«, gestand sie. »Bin ich es?«

Der Drache schien keine Schwierigkeiten zu haben, sie zu verstehen. Sein Kichern ließ Prismen von Licht durch den Raum hüpfen und die Farben zittern und tanzen. »Du bist mutig und ehrlich, das muß man sagen! Wenn du die erste Probe bestanden hast, indem du die Tempeltür geöffnet hast, besteht immerhin Hoffnung.«

»Ich habe diese Tür geöffnet?«

Das Geschöpf schnaubte. »Natürlich! Dieser Tempel war seit Jahrhunderten versiegelt – seit das Drachenvolk Dhiammara verlassen hat. Da wir nach der Verheerung in Kummer und Leid von hier weggegangen sind, haben unsere Weisen einst beschlossen, daß Kummer und Leid der Schlüssel für den Einen sein sollten. Deine Tränen waren das einzige, was diese Tür öffnen konnte, Zauberin.« Der Drache legte seinen gewaltigen Kopf zur Seite und sah sie fragend an. »Ich gehe doch davon aus, daß es deine Tränen waren?«

Die Magusch war verblüfft. »Natürlich waren sie das. Ich habe um jemanden getrauert, der mir sehr teuer war, um jemanden, der gestorben ist.«

»Trauer, wie? Überaus passend.« Die Selbstgefälligkeit im Ton des Drachen ließ Aurian die Fäuste ballen.

»Ich freue mich, daß du so denkst«, fuhr sie auf. »Ich persönlich finde es nicht besonders klug, die Trauer eines anderen zu benutzen.«

»Wer bist du, die Weisheit des Drachenvolks in Frage zu stellen?«

Das Gebrüll des Drachens warf Aurian zu Boden. Die bunten Lichter seiner Sprache explodierten zu gezackten Scherben weißer Blitze, die ihre Augen zu versengen schienen. Die Magusch raffte sich auf und funkelte ihn an; so wütend war sie über seine herrische Arroganz, daß sie ganz vergaß, Angst zu haben. »Wer ich bin?« rief sie. »Ich bin Aurian, die Tochter von Geraint, dem Feuermagusch. Mein Vater ist gestorben, als er versuchte, die Geheimnisse der sogenannten Weisheit des Drachenvolkes zu entschlüsseln. Also erwarte nicht von mir, daß eure Kräfte mich besonders beeindrucken! Erspar mir deine Spielchen, Drache; ich habe keine Zeit dafür. Das Maguschvolk – die Zauberer, wie ihr uns genannt habt – hat sich dem Bösen zugewandt. Der Kessel ist gefunden worden, und die Nihilim wurden auf die Welt losgelassen. Was schlägst du in deiner unendlichen Weisheit vor, soll ich dagegen unternehmen?«

Die Augen des Drachen loderten in hellem Rot auf. »Dann haben sich die alten Prophezeiungen erfüllt. Du mußt der Eine sein!«

»Der eine? Welcher eine?« Aurian stellte fest, daß sie schrie. »Ich verstehe dich nicht!«

»Ich sehe, daß die Jahrhunderte wenig dazu beigetragen haben, das berüchtigte Temperament der Zauberer zu zügeln«, fuhr der Drache auf. Er schlug gereizt mit den Flügeln, so daß eine kleine Lawine von Gold und Edelsteinen mit musikalischem Plätschern seinen Schatzhaufen hinunterkollerte. »Ich spreche von dem Schwert, du Törin! Chierannath, das Schwert der Flamme, das dazu ausersehen wurde, dem Mißbrauch der anderen großen Waffen zu begegnen. Du wagst es, mir von Verlust und von Trauer zu erzählen? Mir, der ich von meinem Volk getrennt wurde, von meinen Freunden und denen, die ich geliebt habe, um hier zu warten, erstarrt in der Zeit, bis das Schwert gebraucht würde? Meine Aufgabe, du Unwissende, ist es, den Einen zu identifizieren, für den die Klinge geschmiedet wurde. Und nun bist du gekommen und hast mit deinen Fragen und deinem armseligen Zorn meinen Schlaf gestört!«