Eine überwältigende Woge von Kraft durchströmte den Stab und warf die Magusch beinahe zu Boden. Sie taumelte, hielt den Stab fest und glühte plötzlich von der Macht des Steins. Sie spürte, wie ihre Gestalt sich ausdehnte, das ganze Zimmer umfing, die Stadt, die Wüste … Sie umfing die ganze Welt – jeden Stein, jeden Grashalm, jedes Geschöpf, das atmete – sie war jedes einzelne von ihnen, und jedes einzelne war sie, und sie frohlockte mit ihnen in dem Wunder ihrer Schöpfung! Aurians Triumphschrei scholl bis hinauf zu den Sternen, als sie den neu geschaffenen Stab der Erde emporhielt!
Shia hatte die Spur der Magusch verloren. Nachdem sie ihre ängstlichen Begleiter durch die halbe Stadt geführt hatte, waren sie schließlich zum Fuß dieses hoch aufragenden, grünen Kegels gelangt, und dort verschwand Aurians Spur. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie zu Anvar. »Die Spur führt bis hierher und hört dann plötzlich auf.«
Anvar fluchte. »Das ist doch lächerlich! Die Spur muß doch hier irgendwo weitergehen. Aurian kann doch nicht verschwunden sein!«
Shia funkelte ihn wütend an. »Möchtest du es vielleicht mal versuchen?« sagte sie spitz.
Anvar seufzte. »Es tut mir leid, Shia. Ich weiß auch nicht, was wir jetzt tun sollen. Wir sind um dieses ganze Ding herumgegangen, und es gibt nirgendwo einen Eingang.« Er blickte an den steilen, glasigen Wänden empor. »Und sie konnte doch nicht da raufklettern …« Seine Worte gingen in dem ohrenbetäubenden Brüllen einer Explosion unter. Der Kegel in seinem hellen, grünen Licht und das ganze Gebäude erzitterten bis in die Grundfesten. Anvar und die anderen wurden zu Boden geworfen, als die Erde sich spaltete und unter ihren Füßen zu stampfen begann. Ein gewaltiger Sturm schien sich aus dem Nichts zu erheben, raste heulend und kreischend um die Gebäude der Stadt und peitschte erstickende Wolken von Staub und Trümmern auf. Anvar bemühte sich vergeblich, wieder aufzustehen. »Sie ist da drin!« rief er über den Lärm des Sturms hinweg. »Sie muß da drin sein!« Große Götter, was hatte sie diesmal angestellt?
34
Erdbeben!
Anvar drückte sich flach auf den Boden, als die Erde zu zittern und zu beben begann. Ganz in der Nähe konnte er die anderen sehen, die von den Gewalten des ungeheuren Sturmes und der sich unter ihnen auf tuenden Erde ebenfalls niedergeworfen worden waren. Der Staub, den der Wind ihm in die Kehle trieb, machte ihn würgen, und er rieb sich die Augen. Dann entdeckte er ganz in der Nähe Rabe. Das geflügelte Mädchen, das in dem Unwetter nicht fliegen konnte, war totenbleich und weinte vor Angst. Noch bevor er irgend etwas tun konnte, fuhr ein Windstoß unter ihre Schwingen, hob sie halb vom Boden und rollte sie vor sich her. Bohan griff, als sie an ihm vorüberrutschte, nach ihrem Handgelenk, und sein Gewicht diente Rabe als Anker, während sie mit ihrer freien Hand seine Kleider zu fassen bekam und sich mit angstverzerrtem Gesicht an ihn klammerte.
Ein gräßliches Knirschen von oben zwang Anvars Blick in die Höhe. Vor seinen entsetzten Augen zog sich ein ganzes Netz weit aufklaffender Risse über die grünen Wände des Turms. »Wir müssen hier weg!« schrie er und versuchte, auf die Beine zu kommen, nur um sogleich wieder von dem scharfen Wind, der seine Worte davonwehte, zu Boden geschleudert zu werden. Shia war die einzige, die ihn wegen ihrer gedanklichen Verbindung hatte hören können.
»Wie?« Das eine Wort klang hart vor Angst.
Die Risse wurden breiter, und zu seinem Entsetzen sah Anvar, daß es den anderen Gebäuden in ihrer Nähe nicht besser ging. Der Ring der Zerstörung breitete sich von dem Turm aus, um nicht nur die ganze Stadt, sondern die gequälten Knochen des Berges selbst zu verschlucken. Er warf sich zur Seite, als der Boden unter ihm aufriß und sich ein gewaltiger Spalt öffnete. Zu spät! Anvar schrie auf, als die Erde unter ihm nachgab und ihn kopfüber in den gähnenden Abgrund stürzen ließ, dessen Ränder sich bereits wieder schlössen.
Ein scharfer Schmerz durchzuckte sein Bein, als ein starker Griff sich um seinen Knöchel schloß. Anvars Sturz fand ein ruckartiges Ende, und er baumelte mit dem Kopf nach unten über der sich schließenden Kluft. Von Angst geschwächt, spürte er kaum, daß auch sein anderer Knöchel ergriffen wurde; das einzige, was er wußte, war, daß er nach oben und in Sicherheit gezogen wurde. Der gezackte obere Rand der Erdspalte rammte sich ihm schmerzhaft in den Magen und in die Rippen und zerfetzte sein dünnes Wüstengewand. Die knirschenden Ränder des Felsens schnappten zu und verpaßten seine zuckenden Finger nur um wenige Zentimeter. Er spürte, wie er grob auf die Füße gestellt wurde, und fand sich plötzlich Auge in Auge mit Aurian wieder.
»Geh da rein!« Sie schob ihn auf einen Eingang zu, eine Öffnung in der Wand des grünen Turms, die vorher nicht dagewesen war. Shia hockte schon im Innern des Turms, das Gesicht verzogen zu einem Fauchen. Bohan, der mit aller Kraft gegen den Sturmwind kämpfte, zog das geflügelte Mädchen auf den Eingang zu. Anvar spürte Aurians Arm um sich und zwang seine taumelnden Schritte den gewundenen Korridor hinauf, der in das Herz des zerfallenden Gebäudes führte. Mit einem schnellen Blick über die Schulter, um festzustellen, ob die anderen ihnen folgten, zog Aurian ihn vorwärts. Erstickende Wolken von grünem Staub fielen von der gläsernen Decke über ihnen herab und machten sie fast blind. Anvars Füße glitten aus, und er stolperte, als plötzlich Smaragdbrocken aus dem aufgerissenen Boden stoben.
Aurian blieb fluchend stehen, und er sah, daß eine Senkung ihnen den Weg versperrte. Bevor Anvar blinzeln konnte, hatte die Magusch ihre freie Hand gehoben und streckte ein Ding aus, das ein blendend grünes Licht verströmte. Dann zuckte ein gewaltiger Blitz auf, eine Explosion von Magie zog ihm die Beine unter dem Leib weg, und der Durchgang war wieder frei. Aurian zog ihn hoch, wobei sie ihm beinahe den Arm aus dem Gelenk riß, aber Anvar ließ es sich gefallen, denn die unglaubliche Intensität der Kraft, die er gerade mit angesehen hatte, beängstigte ihn. »Was war das?« kreischte er.
»Der Stab der Erde«, erwiderte Aurian schroff, als wäre das die normalste Sache der Welt. »Komm weiter!«
Die Magusch zog den erstaunten Anvar weiter, bis sie in einen kreisförmigen Raum kamen, in dem auf dem Boden ein golden funkelndes Mosaik unter herabgefallenem Schutt und Staub gerade noch zu erkennen war. Sie zog ihn fast im Laufschritt durch den Raum hindurch und drückte ihn auf der anderen Seite gegen die Wand. Sein Herz machte einen Sprung, als er spürte, wie er fiel. Er streckte die Arme aus, um sich in Sicherheit zu bringen, aber seine Hände gingen direkt durch den Stein hindurch, während sein Körper von der bösartigen Substanz eines Portals wie dem in der Oase ergriffen wurde.
Sobald er in die dahinterliegende Dunkelheit hineingeglitten war, schenkte die Vertrautheit mit dieser Situation Anvar die Geistesgegenwart, schnell aus dem Weg zu gehen, damit er die anderen nicht behinderte. Shia kam als nächste – er konnte ihren Pelz spüren, der voller Staub war, als sie spuckend und fauchend und gefolgt von einer hysterischen Rabe an ihm vorbeischoß. Das geflügelte Mädchen schrie, so laut es konnte, und schlug in blindem Entsetzen um sich. Eine herumwirbelnde Flügelspitze erwischte Anvar im Gesicht, als ob sie gegen ihn kämpfte. Obwohl er sie gern getröstet hätte, konnte er nur hilflos keuchen. Es gelang ihm nicht, wieder zu Atem zu kommen, und außerdem machte ihm ein schweres Seitenstechen zu schaffen. Er spürte ein warmes, klebriges Blutrinnsal an seinem Bauch und seinen Rippen, dort, wo die Haut von den Kanten über der Kluft aufgerissen worden war. Wie alle Fleischwunden brannten die Abschürfungen furchtbar, und der Schweiß, der seinen Körper durchnäßte, verschlimmerte den Schmerz noch.