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Der Erzmagusch

Der Klang leiser Stimmen weckte Aurian aus einem unruhigen Schlaf. Einen panikerfüllten Augenblick lang fragte sie sich, wo sie war, bis sie das Lampenlicht neben der Tür glühen sah, die zu Meiriels Quartieren am anderen Ende der Krankenstube führte. »Lady Meiriel!« rief sie nervös. Dieser Ort erschien ihr so fremd mit seinen grellweißen Wänden und dem planen, polierten Mamorboden, auf dem sich eine Reihe leerer Betten widerspiegelte. Die Heilerin kam energisch lächelnd ins Zimmer.

»Hab’ ich dich aufgeweckt?«

»Stimmt irgend etwas nicht?« fragte Aurian.

»Nichts, worüber du dir Gedanken machen müßtest.« Meiriel zuckte gleichgültig die Achseln. »Nur ein ignoranter Sterblicher, der am Tor Unruhe gestiftet hat. Weil wir bestimmte Kräfte haben, glauben diese Leute, unser einziger Lebenszweck bestünde darin, herumzulaufen, um ihnen zu helfen!«

Aurian runzelte die Stirn. Jede Erwähnung der Sterblichen erinnerte sie schmerzlich an Forral – aber andererseits schien es nichts zu geben, was sie nicht an den Schwertkämpfer erinnerte. Sie ballte die Fäuste und nahm all ihre Willenskraft zusammen, damit ihr nicht die Tränen in die Augen traten. »Sollten wir ihnen denn nicht helfen?« fragte sie. »Ich verstehe das nicht.«

Die Heilerin setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »Hier in der Akademie, Aurian, wirst du lernen, daß es einfach nicht genügt, deine Kräfte an stumme, winselnde Kreaturen zu vergeuden. Nun, wir haben eine lange Reise hinter uns und brauchen jetzt unsere Ruhe. Kann ich dir etwas holen, damit du besser schläfst?«

»Ja bitte, Meiriel.« Alles war besser, als wach im Bett zu liegen und zu grübeln.

Während sie versuchte, nicht das Gesicht zu verziehen, schluckte Aurian den Trank, den die Heilerin ihr gebracht hatte, so schnell wie möglich herunter. Obwohl er klebrig war und ausgesprochen ekelhaft schmeckte, zog sie ihn doch eindeutig Meiriels Schlafmagie vor, die sie furchtbar zermürbend fand. Die Zeit schien stillzustehen, wenn sie unter dem Zauber stand – sie brauchte ihre Augen nur für eine Sekunde zu schließen, so schien es – aber wenn sie sie wieder öffnete, waren Stunden vergangen. Glücklicherweise, so dachte sie, hatte die Heilerin ihre Furcht verstanden. Nachdem man sie gegen ihren Willen aus ihrem Zuhause an diesen neuen und erschreckenden Ort gebracht hatte, war Aurian selbst für Meiriels schroffe, sachliche Freundlichkeit geradezu mitleiderregend dankbar. Nun schluckte sie die Tränen herunter, kuschelte sich unter der Decke zusammen und hoffte, daß sie einschlafen würde, bevor ihr Geist sich mit der Katastrophe beschäftigen konnte, die ihrem Leben eine solche Wendung gegeben hatte.

Die Heilerin hatte mehrere Wochen gebraucht, um Aurians zerschmetterte Schulter wiederherzustellen, aber an die ersten Tage konnte sie sich überhaupt nicht mehr erinnern. Meiriel hatte unermüdlich daran gearbeitet, ihren Arm zu retten; mit ihrer Heilmagie und peinlicher Genauigkeit setzte sie Fragmente zertrümmerter Knochen wieder zusammen und reparierte auch die durchtrennten Muskeln. Dann hatte Meiriel ihre Kräfte benutzt, um den natürlichen Heilungsprozeß des Körpers zu beschleunigen, ein Vorgang, bei dem ein großer Teil der Kraft der Patientin verzehrt wurde, so daß Aurian in einen mehrtägigen, tiefen Schlaf verfiel, während dessen ihr Körper seine Energien zurückgewann. Als sie schließlich erwachte, hatte die Wunde sich geschlossen und machte schnelle Fortschritte, obwohl ihr Arm sich immer noch steif, schwach und wund anfühlte. Natürlich hatte sie sofort nach Forral gefragt. Zuerst hatte ihre Mutter sie hingehalten, aber schließlich hatte sie auf Meiriels Rat hin nachgegeben und Aurian seinen Brief überreicht. Mittlerweile kannte sie jedes Wort auswendig:

Aurian, mein Liebes, es tut mir leid, daß ich nicht da sein kann, wenn Du aufwachst, aber wenn ich bliebe, um Dir auf Wiedersehen zu sagen, brächte ich es niemals fertig, zu gehen. Ich weiß nicht, ob ich es Dir so erklären kann, daß Du es verstehst, aber ich werde es versuchen. Gib Deiner Mutter keine Schuld – diesmal hat sie mich nicht weggeschickt. Ich gehe, weil ich nicht mit dem fertig werde, was ich dir angetan habe. Ich weiß, daß es ein Unfall war, aber trotzdem bleibt es meine Schuld. Ich hatte kein Recht, Dich einem solchen Risiko auszusetzen – ich kann kaum glauben, wie dumm ich war. Die Lady Meiriel sagt, Du würdest wieder gesund werden und Dein Arm wieder seine volle Kraft haben, und ich kann den Göttern nur dafür danken, daß ich Dich nicht auf der Stelle getötet habe. So, wie die Dinge liegen, kann ich mir selbst niemals verzeihen.

Ich mußte Deiner Mutter sagen, warum wir mit Deiner Schwertausbildung überhaupt begonnen haben, aber mach Dir keine Sorgen – sie war nicht böse, es sei denn darüber, daß ich es ihr nicht schon früher gesagt habe. Nun, wie dem auch sei, sie und die Heilerin wollen, daß Du in die Akademie zu Nexis gehst, um dort eine ordentliche Ausbildung zu bekommen, was nur recht und billig ist, denn Du bist schließlich eine Magusch. Ich habe daran gedacht, mit Dir nach Nexis zu gehen und dort wieder der Garnison beizutreten, so daß wir einander sehen könnten, aber das wäre nicht fair Dir gegenüber. Du mußt bei Deinem eigenen Volk zur Ruhe kommen und lernen, Deine Talente richtig zu nutzen, und ich wäre Dir dabei nur im Weg. Also gehe ich fort und werde mich wieder als Soldat verdingen.

Aurian, bitte verzeih mir, daß ich Dich so im Stich lasse. Es bricht mir das Herz, aber es ist das beste so, wirklich. Bitte vergiß mich nicht, so wie ich Dich niemals vergessen werde. Und zweifle nicht daran, daß wir uns eines Tages wiedersehen werden. Ich werde immer an Dich denken. Mit aller Liebe, die ich habe, Forral.

Die folgenden Wochen waren wie in einem Nebel des Jammers an ihr vorübergerauscht. Nichts schien mehr eine Rolle zu spielen, nun, nachdem Forral gegangen war. Hatte sie sich in dem Schwertkämpfer geirrt? Wenn er sie wirklich liebte, wie konnte er sie dann so im Stich lassen? Aurian, betäubt und zutiefst verletzt, hatte schließlich einfach getan, was ihre Mutter und die Heilerin ihr gesagt hatten, so daß sich ihr Körper nach und nach so weit erholt hatte, daß sie zusammen mit Meiriel die Reise nach Nexis antreten konnte. Aber nicht einmal der Ritt durch das weite, unbekannte Land hatte es geschafft, ihre Stimmung zu heben. Das Wetter, das beharrlich kalt und trostlos blieb, war ein perfektes Spiegelbild ihrer Gemütsverfassung, während sie ihrem Ziel, Nexis, immer näher kamen: Zuerst ritten sie über wilde, verschneite Moore und dann, sobald sie die große Straße, die ins Tiefland führte, erreicht hatten, durch kultiviertes und gepflegtes Ackerland und durch Wälder. Von alledem aber nahm Aurian kaum etwas wahr. Sie war sich kaum ihrer Umgebung bewußt, geschweige denn der Tragweite der Reise, die sie angetreten hatte.

Es hatte erst der Stadt bedurft, um Aurian mit einem Ruck aus ihrem Selbstmitleid herauszureißen. Nachdem sie beinahe ihr ganzes Leben in der Abgeschiedenheit des einsamen Tales ihrer Mutter zugebracht hatte, war Nexis mit seinen hoch aufragenden Gebäuden und den unglaublichen Menschenscharen ein unglaublicher Schock für sie. Alles war so groß, so laut und überfüllt, daß sie meinte, nicht mehr atmen zu können. Sie hatte ja nicht gewußt, daß es so viele Menschen auf der Welt gab! Meiriel war auf ihre etwas brüske Art und Weise voller Mitleid gewesen. »Nur Mut, Kind«, hatte sie gesagt. »Hab keine Angst, sie werden dir nichts tun! Atme tief durch und halt dich dicht hinter mir. In der Akademie ist es viel friedlicher, und an die Stadt wirst du dich noch beizeiten gewöhnen.«

Aurian zweifelte daran, daß sie sich jemals an die Stadt oder an die Akademie gewöhnen würde. Meiriels makellose Krankenstube war so ganz anders als das vertraute Durcheinander im Turm ihrer Mutter, und da ihr alles so fremd war, lebte sie in ständiger Angst davor, etwas Falsches zu tun oder zu sagen. Sie sehnte sich nach der Zuflucht ihres eigenen Zimmers und nach der starken, tröstlichen Gegenwart Forrals.

Um ihren schwindenden Mut ein wenig aufzurichten, klammerte Aurian sich fest an die harte, schlanke Form ihres Schwerts. Jede Nacht nahm sie die in der Scheide steckende Klinge mit ins Bett, denn das war alles, was ihr von Forral geblieben war. Sobald sie sich soweit von ihren Verletzungen erholt hatte, daß sie laufen konnte, war sie zu der Lichtung gegangen, wo sie so viele glückliche Stunden im Training verbracht hatten. Ihr kostbares Schwert lag unberührt auf dem Boden, dort, wo es hingefallen war, und seine lederne Scheide war bereits steif und verlor schon ihre Farbe; die Klinge war mit Rostflecken übersät. Von Schluchzern geschüttelt hatte Aurian ihr Schwert vorsichtig aufgehoben und nach Hause gebracht. Dann hatte sie Stunden darauf verwandt, sowohl Klinge als auch Scheide mit größter Sorgfalt zu ölen, wobei sie immer wieder innehalten mußte, um sich die Tränen abzuwischen, die ihr Werk zu ruinieren drohten. Und trotz der Einwände Meiriels und ihrer Mutter hatte sie sich geweigert, sich von Coronach zu trennen, und schon der bloße Vorschlag hatte eine so heftige Reaktion ausgelöst, daß die beiden nachgaben und ihr erlaubten, es zu behalten. Aurian, die sich nun fest an das Schwert klammerte, weinte sich in den Schlaf, wie sie es so oft getan hatte seit jener Nacht, in der Forral sie verlassen hatte.