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Obwohl Aurians Enthüllung ihn zutiefst verblüfft hatte, waren das einzige, was er vor sich sehen konnte, die Kiefer der Kluft, die sich schlössen … schlössen …

Rabes Raserei hatte ein Ende gefunden. Bohan tröstete sie mit seiner schweigenden, zuverlässigen Gegenwart. Der kleine Raum war beinahe überfüllt, als Aurian sich zu ihnen gesellte. »Bedeckt eure Augen!« Ihre Stimme scholl durch die Dunkelheit. Selbst durch seine geschlossenen Augenlider und die schützenden Hände hindurch konnte Anvar das Aufblitzen von Maguschlicht sehen, aber einen entsetzlichen Augenblick lang passierte überhaupt nichts. Er kämpfte gegen eine überwältigende Panik und sah sich selbst gefangen und zerschmettert in dem zusammenbrechenden Turm. Plötzlich, nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, sprang ihm der Magen in die Kehle, während der Raum in einer Folge ruckartiger, bebender Bewegungen in die Tiefe schoß. »Dank den Göttern, ich dachte schon, wir wären zu spät weggekommen!« Aurians nüchterne Stimme war wie Balsam. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ Anvar sich in das Vergessen der Bewußtlosigkeit fallen.

»Hier, mein Freund – ist es so besser?«

Das war es tatsächlich. Der feuchte Stoff fühlte sich auf Anvars Gesicht weich und kühl an und wusch den körnigen Staub, der ihm in Mund und Augen saß, fort. Er öffnete die Augen und sah die plumpe, tröstliche Gestalt von Eliizars Frau. »Aurian, er wacht auf«, rief sie.

Der fröhliche Klang ihrer Stimme beruhigte Anvar – bis er die Magusch sah. Aurian hatte sich verändert. Sie füllte sein ganzes Bewußtsein, sah größer aus, wilder, kraftvoller und schöner, als er sie je zuvor gesehen hatte; sie war erfüllt von einer inneren Glut und einer ehrfurchtgebietenden Kraft, die sie umgab wie ein Umhang aus Licht. Anvar schluckte. Das war eine Göttin – eine mächtige Königin der Legende. Das war nicht seine Aurian.

»Was ist mit dir passiert?« Er bekam die Worte nur mit Mühe heraus, denn ihre Gegenwart erfüllte ihn mit Angst, und er mußte gegen den Drang, vor ihr zurückzuweichen, ankämpfen. »Du hast dich verändert!«

Aurian schüttelte den Kopf. »Ich bin immer noch die alte, fürchte ich. Sehe ich denn so schrecklich aus?« An die Stelle ihres Lächelns war nun ein flüchtiges Stirnrunzeln getreten.

»Nein. Nicht schrecklich.« Irgendwie beruhigte ihn ihre Unsicherheit. »Prachtvoll.«

Die Magusch zog eine Grimasse. »Und das versetzt jedem hier so einen Schock? Eliizar wäre bei meinem Anblick um ein Haar ohnmächtig geworden.«

Anvar wußte, daß sie seiner Frage mit Absicht auswich. »Was ist mit dir passiert?« beharrte er.

»Weißt du nicht mehr? Ich habe ihn gefunden, Anvar. Den Stab der Erde!«

Aus einer Falte in ihrem Gewand, die das blendende Licht verborgen hatte, zog Aurian den Stab hervor, und Anvar erzitterte vor der Kraft, die durch das schlanke, glühende Holz pulsierte. Das war also die Quelle des Feuerst das Aurian erfüllte. Aber … Anvar runzelte die Stirn. Es war Aurians alter Stab, nur verändert. An der Spitze, wo es keinen Schmuck gegeben hatte, erhoben sich nun die Zwillingshäupter der Schlangen und hielten in ihren geöffneten Kiefern einen grünen Edelstein, der sogar noch heller als die Sonne selbst zu glühen schien. Anvar bedeckte seine Augen, denn er war unfähig, den leuchtenden Stein direkt anzusehen.

Aurian verstaute den Stab wieder in ihrem Gewand und verbarg sein Licht. »Wenn ich erst gelernt habe, ihn richtig zu beherrschen …« Sie sprach mit ruhiger Stimme, aber in ihren Augen funkelte wilde Erregung. »Zumindest werden wir dann eine Waffe gegen Miathan haben!«

Anvar erzitterte in plötzlicher Furcht, als er an das Erdbeben dachte, das sie alle beinahe getötet hätte – und an das, was der Erzmagusch mit dem Kessel getan hatte. Würde Aurian bei der Verfolgung ihrer Rache ebensolche Zerstörung hinter sich zurücklassen?

Anvar bemerkte, daß Aurians Gesicht von Anstrengung verzerrt war. Sie bemühte sich nach Kräften, ihrer Stimme einen leichten, ruhigen Klang zu geben, als sie fortfuhr, wobei sie zu schnell sprach, als daß er eine Chance gehabt hätte, sie zu unterbrechen. »Ich habe die Schrammen geheilt, die du hattest – sie waren voll von dem Dreck aus diesem Erdspalt. Du wirst dich wohl eine Weile ziemlich schwach fühlen. Nereni macht uns etwas zu essen, und ich gehe jetzt und wecke Rabe. Sie war so hysterisch, daß ich sie für eine Weile in Schlaf versetzt habe. Bevor sie aufwacht, möchte ich etwas wegen der Sprache unternehmen. Sie kann uns verstehen, aber jetzt, da wir wieder bei den anderen sind, wird es Probleme geben. Wenn ich es schaffe, daß sie die Sprache der Khazalim verstehen, können wir uns alle miteinander unterhalten.«

»Kannst du das denn?« Anvar war überrascht.

»Nun ja – ich habe noch nie gehört, daß jemand so etwas versucht hätte, aber ich denke, es sollte mir gelingen. Vergiß nicht, ihre Vorfahren waren ebenfalls Magusch, bevor sie ihre Kräfte verloren. Die Beherrschung fremder Sprachen sollte ihr im Blut liegen; ich muß diese Fähigkeit nur freisetzen. Bevor Anvar etwas erwidern konnte, war Aurian auch schon verschwunden.«

»Geht es dir gut?« Nereni klang ängstlich besorgt.

Anvar hatte ganz vergessen, daß sie da war. »Ich bin nur müde«, sagte er zu ihr. Nereni nickte.

»Kein Wunder, daß die Sache dich ziemlich mitgenommen hat«, sagte sie. »Hier unten haben wir gedacht, der ganze Berg würde über uns zusammenbrechen.« Mit einem besorgten Stirnrunzeln sah sie hinüber zu Eliizar, der sich um Shia und Bohan kümmerte. Obwohl es ihnen den Umständen entsprechend gar nicht so schlecht ging, war das Gesicht des Schwertmeisters aschgrau.

»Anvar …« Nereni zögerte. »Was ist da oben passiert? Was hat dieses Erdbeben hervorgerufen? Aurian hat sich verändert – genug, um Eliizar vor Angst fast um den Verstand zu bringen, als ihr durch die Wand im hinteren Teil der Höhle kamt.«

Dort waren sie also herausgekommen. Anvar hatte sich schon gefragt, wie es Aurian gelungen war, sie zurückzubringen. »Hattest du denn keine Angst vor ihr?« erkundigte er sich, wobei er ihren Fragen sorgfältig auswich.

Nereni zuckte mit den Schultern. »Das kann ich nicht einmal mehr sagen – ich war so erleichtert, euch alle wiederzusehen, daß ich keinen Augenblick lang daran gedacht habe …« Sie lächelte vertrauensvoll. »Manchmal glaube ich, daß Frauen praktischer veranlagt sind als Männer – aber laß es niemals Eliizar hören, daß ich das gesagt habe? Wie dem auch sei, du mußt jetzt etwas essen. Ich werde uns eine Mahlzeit zubereiten, und dann könntest du mir ja vielleicht erzählen, wie ihr die da gefunden habt.« Sie zeigte auf Rabe, die mittlerweile wach war und sich leise mit Aurian unterhielt, und zwar, wie Anvar zu seiner Überraschung feststellte, in der Sprache der Khazalim. Ich hätte nie geglaubt, daß sie das schaffen würde, dachte er und erschauderte innerlich. Welche anderen Kräfte mochte die Magusch jetzt noch zu ihrer Verfügung haben?

Nach einer Weile überredete Aurian Rabe, sich zu den anderen ans Feuer zu setzen, und Anvar war erleichtert, festzustellen, daß das geflügelte Mädchen für Nerenis mütterliche Fürsorge wirklich dankbar war. Während sie aßen, senkte sich die Nacht über die Wüste draußen. Aurian sah zu Anvar hinüber. »Ich glaube, die Zeit ist gekommen, unseren Freunden zu erzählen, was uns nach Süden gebracht hat.«

Und so machte sie sich daran, den anderen von Miathans Verrat zu erzählen, der sie und Anvar in die Südlichen Königreiche geführt hatte. Anvar bemerkte, daß sie nicht ein einziges Wort über Forral verlor, ebensowenig wie über die Tatsache, daß sie und Anvar nicht verheiratet waren, wie sie behauptet hatten. Und er wunderte sich darüber. Aber vielleicht hatte sie recht. Es konnte nichts schaden, und angesichts der Bräuche dieser Leute war es sicher bequemer, ihre Scharade noch für eine kleine Weile aufrechtzuerhalten? Ohne irgend jemandem Zeit zu geben, etwas zu sagen, stürzte sie sich auf die Ereignisse, die sich im Berg zugetragen hatten, und erzählte, wie sie in den Besitz des Stabs der Erde gekommen war.