Anvar war sicher, daß Aurian, was diesen Teil ihrer Erzählung betraf, einiges ausgelassen hatte. Sie waren sich so nahegekommen, nachdem sie ihm im Sklavenlager das Leben gerettet hatte, daß er instinktiv wußte, wann sie etwas verbarg. Er spürte ein wachsendes Gefühl der Beklommenheit in sich aufsteigen. Warum hatte Aurian verschwiegen, was geschehen war, nachdem sie sich am vergangenen Abend getrennt hatten? Was hatte sie zu dem Smaragdturm hingeführt? Sie behauptete, die Tür habe sich geöffnet, als sie sich daran gelehnt hätte. Da er jedoch dasselbe versucht hatte, wußte er, daß das wohl ein Märchen war. Anvar kämpfte gegen seinen Verdacht. Was versuchte sie zu verbergen?
»Dann sagte der Drache, daß ich bewiesen hätte, daß das Schwert für mich geschmiedet wurde.« Aurians Worte holten Anvar abrupt in die Gegenwart zurück.
»Du hast das Schwert?«
Die Magusch schüttelte den Kopf. »Es wurde in ein Versteck gebracht. Das Drachenvolk hat es den Phaerie gegeben, damit sie es aus der Welt nahmen. Wenn die Seher recht hatten, werden sie der Welt das Schwert zurückgeben, wenn die Kunde von diesem neuen Bösen sie erreicht. Der Drache hat mir erzählt, daß ich es finden und die Fallen, die zu seinem Schutz aufgestellt wurden, überwinden müsse. Er sagte, die Phaerie hätten einen großen Ansporn, ihre Seite des Handels zu erfüllen, und wenn das Schwert erst der Welt zurückgegeben wird, würde seine Gegenwart mich früher oder später ganz von selbst zu ihm hinziehen.«
Eine tiefe Stille folgte auf ihre Worte. Alle Augen waren auf die Magusch gerichtet. Anvar versuchte ihren Blick aufzufangen, aber sie biß sich auf die Lippen und sah weg. »Und was ist mit den fehlenden Teilen der Geschichte?« wollte er wissen. »Wie bist du wirklich in diesen Turm hineingelangt? Woher wußtest du überhaupt, daß er da war? Wenn es diesen Drachen gibt, wo ist er jetzt? Und, was noch wichtiger ist, was hast du getan, um die Stadt zu zerstören?«
»Willst du behaupten, ich hätte gelogen?« Aurians Stimme war gefährlich ruhig. Anvar sah Schmerz und Enttäuschung auf dem Gesicht der Magusch und wußte, daß er sehr hart zu ihr war – vielleicht auch unfair –, aber er mußte die Wahrheit wissen. Der Stab war zu mächtig, als daß er das Risiko hätte eingehen dürfen, daß er Aurian verdarb – so, wie der Kessel Miathan verdorben hatte. Bei diesem Gedanken wurde er sich plötzlich unbehaglich der Tatsache bewußt, daß die anderen ihm zuhörten. Eliizars Gesicht war starr vor Angst und Mißtrauen angesichts all dieses Geredes über Zauberei, und plötzlich verstand Anvar den uralten Drang der Magusch, ihre Angelegenheiten für sich zu behalten. Dies hier mußte er mit Aurian allein austragen.
»Wir müssen reden«, sagte er mir leiser Stimme zu ihr, wobei er ihre eigene Sprache benutzte, aber seine Worte gingen in dem lauter werdenden Klang von Hufen auf Stein unter. Anvar drehte sich um und sah die verschleierte, schattenhafte Gestalt eines Reiters, der durch den Höhleneingang kam und sich tief duckte, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Hinter sich zog er einige Pferde mit. Die Bewegung von Tieren und Reiter ließ die Fackeln aufflackern und qualmen.
Eliizar stieß einen Freudenschrei aus. »Yazour!«
Sie scharten sich um den jungen Hauptmann, wobei alle gleichzeitig sprachen und alle anderen Fragen für den Augenblick vergessen waren. Yazour ließ die Pferde, die er angeführt hatte, los, und die durstigen Tiere, die mit den Sitten Dhiammaras vertraut waren, machten sich auf den Weg die Rampe hinauf zu dem oberen Becken, wobei sie ihre Lasten einfach mit sich nahmen. Nereni überredete die anderen, den müden jungen Mann wenigstens so lange in Ruhe zu lassen, daß er sich ans Feuer setzen konnte, wo sie sich alle abermals mit erwartungsvollen Gesichtern versammelten.
Yazour nahm dankbar einen Schluck aus dem Wasserschlauch und rieb sich eine Handvoll Wasser über sein staubiges, unrasiertes Gesicht, bevor er die anderen ansah. »Ihr seid alle hier – einschließlich unserer verschwundenen Lady! Ich sehe, ihr habt die Vorräte also gefunden – und wer ist das da?« Voller Verwunderung blickte er zu Rabe hinüber, die sein Lächeln scheu erwiderte.
Eliizar grinste; offensichtlich fühlte er sich jetzt, da ein weiterer Krieger zurückgekehrt war, viel wohler in seiner Haut. »Ich habe unsere Wette gewonnen«, sagte er zu Yazour. »Wie du siehst – die Geflügelten gibt es wirklich!«
»Tatsächlich – und wenn du mir gesagt hättest, daß sie so hübsch sind, Eliizar, wäre ich höchst persönlich in diese Berge hinaufgeklettert, um sie zu suchen!«
Rabe wurde dunkelrot, und Anvar mußte trotz seiner Sorgen lächeln.
»Ich wünschte nur, ich wäre früher gekommen«, sagte Yazour, »aber ich hatte schließlich einen Treueid geschworen …« Traurig schüttelte er den Kopf. »Die Entscheidung ist mir wirklich nicht leichtgefallen, aber das, was der Khisal getan hat, hat mich derartig angewidert – nun, am Ende konnte ich es einfach nicht mehr aushalten. Ich wußte, daß ich zu euch zurückkehren mußte. Ich habe die Wache überredet, ein Auge zuzudrücken, als ich mich davongemacht habe – ich habe den Mann bewußtlos geschlagen, um ihn vor dem Zorn Harihns zu retten, wenn meine Flucht entdeckt wird –, und dann bin ich, so schnell ich konnte, zurückgeritten.«
»Und es ist unmöglich, daß der Prinz dir gefolgt ist?« Aurians Stimme klang scharf vor Besorgnis.
Yazour schüttelte den Kopf, und sein Gesicht zeigte plötzlich einen trostlosen Ausdruck. »Nicht einmal Harihn wäre so dumm. Er wird seine eigene Haut retten wollen. Weißt du, wir befinden uns in größter Gefahr, Aurian. Das Wetter hat sich ganz gegen den Gang der Jahreszeiten entwickelt, und wir müssen morgen abend sofort aufbrechen und die Wüste hinter uns bringen, so schnell wir können. Es wird eine schwierige Reise werden – wir sind mit dem wenigen, das ich mitbringen konnte, schlecht ausgerüstet –, aber wir müssen uns beeilen, wenn uns unser Leben lieb ist. Die Sandstürme können jederzeit losbrechen, und wenn wir vorher nicht in Sicherheit sind …«
Das mußte Eliseths Werk sein. Anvar ballte die Fäuste. Die Magusch verschwendeten keinen einzigen Gedanken an die unschuldigen Menschenleben, die sie vielleicht opferten – oder bereits geopfert hatten –, nur um Aurian zu vernichten. Diese Überlegung verschlimmerte seine Sorgen um Aurian nur noch. Wozu würde sie fähig sein, jetzt, da ihr diese neue Macht zu Gebote stand? Er blickte dorthin, wo sie saß und leidenschaftlich mit Yazour Pläne schmiedete. Was war aus dem Vertrauen geworden, das sie einst geteilt hatten? Warum hatte sie gelogen?
In der Aufregung über Yazours Rückkehr hatte Anvar eine Zeitlang keine Gelegenheit, mit der Magusch zu sprechen, aber endlich, nachdem die Dämmerung angebrochen war, legten sich alle schlafen, um sich auf die bevorstehenden Strapazen vorzubereiten. Aurian war ihm den ganzen Abend über aus dem Weg gegangen, und nun zog sie es vor, sich auf die andere Seite der Gruppe zu legen, neben Shia. Anvar stellte fest, daß er ihre Gegenwart an seiner Seite sehr vermißte, und schimpfte sich selbst einen Narren. Aber sowohl er sich vorgenommen hatte, wach zu bleiben, um sie unter vier Augen zur Rede zu stellen und nach den Ungereimtheiten in ihrer Geschichte zu fragen, weigerten sich seine Augen, offenzubleiben, und schon bald war er fest eingeschlafen.
Ein vages, unklares Gefühl der Unruhe zog Anvar wieder aus dem Schlaf, während das helle Mittagslicht noch immer durch die Öffnung der Höhle schimmerte. Er öffnete die Augen, setzte sich auf und stellte fest, daß Aurian verschwunden war. Die Magusch war jedoch nicht weit weg. Anvar fand sie allein neben dem Becken .Sie wurde von Schluchzern geschüttelt und hatte die Knöchel ihrer Hand fest auf ihren Mund gepreßt, als sie mit der unendlich traurigen Verlassenheit eines verletzten Kindes weinte. Sorge und Mitleid überwältigten ihn, und in diesem Augenblick wußte Anvar, daß er sie lieben würde – was auch immer aus ihr geworden sein mochte, was auch immer sie mit ihrer neuen ehrfurchtgebietenden Macht tun mochte. Er würde sie lieben.